Archiv für den Monat: Februar 2010

Brief von Fabian Grieger, 14 Jahre, an Christof

Brief von Fabian Grieger, 14 Jahre, an Christof

Lieber Christof,

Hier schreibe ich dir mal eine Mail. Wie du sicher weißt waren wir ja in Indien und was mich dort besonders beeindruckt hat ist die Lebensfreude, die die Menschen dort, trotz der vielen Armut, prägt. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass diese Lebensfreude in den unteren Gesellschaftsschichten deutlicher oder stärker vorhanden ist, als in den oberen Schichten. Daran, dass diese unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Indien bestehen, besteht wohl kein Zweifel, auch wenn diese auf Grund der angesprochenen Lebensfreude auf der Straße kaum zu erkennen sind. Natürlich lässt sich der Lebensstandard an Materiellem festmachen, doch nicht an der nach Außen dringenden Glücklichkeit, was bei mir die Frage nach sich zieht, ob solch eine materielle wohlhabende Welt, wie ich sie kenne, überhaupt erstrebenswert ist. Doch das Streben nach ihr besteht zweifelsohne und das lässt sich überall erkennen. Für mich allerdings auch bei den Bettlern, das mag paradox klingen, aber so habe ich es teilweise auch empfunden.

Und zwar entdeckte ich inmitten der vielen fröhlichen Gesichter, die von Traurigkeit geprägten und nach Mitleid ächzenden Bettler. Ich schaute die arme Frau mit dem hungernden Kind auf dem Arm an und bekomme Mitleid. Das Bedürfnis des Gebens kommt auf und fast schon nach Gewohnheit kramt Karlheinz nach einer Münze oder einem kleinen Schein, was ich als Erwachsener sicher auch getan hätte. Das ist menschlich, doch mein Gehirn sagt „stopp“, so hart das auch klingt. Denn hat diese Bettlerin nicht genau die gleichen Voraussetzungen wie der Schneider an der Ecke, der für das Umnähen von Franziskas Jacke gerade einmal 15 Rupien (ca. 20 Cent) verlangt? Der Schneider lächelt, wirkt glücklich mit seinem bescheidenen Leben und seiner sinnvollen Tätigkeit für die Gesellschaft. Und die Bettlerin? Lässt sich auf das Niedrigste menschliche Niveau herab, versucht sich unter die Anderen zu stellen und macht sich selbst zu dem was sie ist, für Geld!

Oft habe ich beobachtet, dass sich Leute über eine Mandarine mehr gefreut haben, als über Geld. Doch gibt man der armen Frau 15 Rupien (wie dem Schneider, lässt sie nicht locker und will mehr, getrieben von dem Wunsch nach Wohlstand und mehr, getrieben von dem Gedanken so viel haben zu wollen wie der Spender. Ich glaube, dass jeder Mensch etwas tun kann und Fähigkeiten hat, dass jeder etwas für die Gesellschaft tun kann und jemand nicht dafür entlohnt werden sollte, dass er sich unter Andere stellt. Mit der Phrase „etwas für die Gesellschaft tun“ meine ich nicht nur arbeiten und schon gar nicht Geld verdienen, sondern auch z.B. das Einsetzen für die Rechte der Armen (wie es Bettler zweifelsohne sind) und aktiv etwas dafür zu tun, dass die Dinge sich ändern. In welchen Dimensionen das geschieht, spielt keine Rolle. Was macht ein die Ungerechtigkeit akzeptierender Bettler für die Gesellschaft? Übrigens glaube ich nicht, dass ein politisches System das Betteln (besonders das moralische) durch Bekämpfung der Armut abschaffen kann, dazu gleich ein Beispiel, wir befinden uns übrigens im kommunistischen Bundesstaat Kerala.

Heute haben wir eine Wanderung mit einem Guide gemacht, den wir von dem Preis 600 Rupien pro Person auf 200 herunterhandeln mussten (200 war immer noch ein sehr hoher Preis, den ein anderer Guide angegeben hatte). Dieser führte uns zu einer Hütte der Ureinwohner Toda, die offensichtlich Touristen (es ist grausam der reiche angeblich bessere Weiße zu sein) gewohnt waren. Schnell führte uns eine kleine überfreundliche alte Frau in ihre Holzhütte und küsste Ute und Franziska die Hand. Dann nach unnatürlichem Smalltalk, mussten wir ihre traditionelle Kleidung und eine Kette anprobieren und fotografieren lassen. Schließlich erklärte sie uns, dass ihr Mann vor 10 Jahren gestorben war und zeigte uns ein Bild von ihm. Direkt darauf wollte sie uns sowohl Kleidung als auch Kette schenken, letzteres war einfach nicht zu verhindern. Nun führte sie uns hinaus, weitere unehrliche Liebkosungen und Händehalten erfolgten bis sie schließlich erklärte ins Krankenhaus zu müssen und um Begleitung bat, darauf bettelte auch sie um Geld. Nun stand da die arme alte Ureinwohnerin, die auf Grund ihres verstorbenen Mannes ganz alleine war und schenkte den reichen Europäern etwas. Karlheinz gab ihr 50 Rupien, sie wollte mehr. Bettelte weiter und weiter und hielt Karlheinz fest, er gab ihr weitere 100 Rupien. Sie wollte mehr, der Guide beobachtete alles erstaunt doch es war schwer der alten Frau zu entfliehen. Später bezahlten wir den Guide, 800 Rupien. Flehend sah er uns an, wohlwissend um den Erfolg der alten Frau und wollte 50 Rupien mehr. Er bekam 20 und der Guide besaß ein Haus und sein Sohn studierte. Nur zur Erinnerung, der Schneider erhielt ehrliche 15 Rupien und bat nicht um Trinkgeld. Ich glaube kaum, dass die Frau und der Guide an Essen und Überleben dachten, nein es war diese Gierigkeit, entstanden aus dem Bedürfnis nach dem Reichtum der Weißen. Und dieses kann kein System ändern und so bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass ein politisches System nur die gleichen Voraussetzungen und Grundlagen für jeden Menschen garantieren kann. Ungleichheit wird immer bleiben, was in der Natur des Menschen liegt, da er unterschiedliche Fähigkeiten hat. Und ein Verbessern der Voraussetzungen würde gleichzeitig die Möglichkeit schaffen, mehr für die Gesellschaft zu tun, wie zum Beispiel beim Grundeinkommen. Doch auch dieses wird das Betteln nicht ändern können, da es dieses moralische Betteln ist, selbst von „Reichen“ und eine echte Gefahr für die Lebensfreude der Menschen hier darstellt. So wird auch eine Verbesserung der Grundstandards das Ächzen nach mehr nicht ändern können, da es immer Ungleichheit geben wird. So glaube ich, dass die arme Welt ohne die Westliche oder die Oberschichten keine Arme mehr wäre und glücklicher wäre als die luxuriösere. Denn diese Lebensfreude gründet sich, glaube ich, auf das Freuen über die kleinen Dinge (Mandarine, Freundlichkeit), das so in Europas Mittelschicht und Oberklasse nicht vorhanden ist.

Wie ist es in Mali und welchen Umgang pflegst du mit Bettlern?

Ich hoffe du findest Zeit die Mail zu lesen und zu antworten,
viele Grüße,
Fabian.