Gesellschaft

Inhaltsverzeichnis:

  1. Schwarzafrika, das weisse Blatt Papier
    Zu Christoph Schlingensiefs Albtraum eines Operndorfs für einen Mörder.
  2. Genitalverstümmelung bei minderjährigen Jungen ist Kindesmissbrauch
  3. Etikettenschwindel

 

 

Genitalverstümmelung bei minderjährigen Jungen ist Kindesmissbrauch

In den islamisch besetzten Gebieten Nord-Malis werden im Jahr 2012 unverheiratete Ehepaare ausgepeitscht, weil ihre Lebenspraxis jahrtausendealten Traditionen widerspricht. In Deutschland gibt es im Jahr 2012 ein Gesetz, das männliche Genitalverstümmelung erlaubt, weil sie jahrtausendealter Tradition entspricht. Einwände gegen diesen Rückfall in die Steinzeit werden als religiös intolerant und antisemitisch verleumdet.

Wer, wie der Autor dieser Zeilen, von Mali nach Deutschland zurückgekehrt ist, weil er nicht in einem Land leben kann, in dem gefoltert wird, fragt sich, ob er vom Regen in die Traufe gekommen ist. Welch verkehrte Welt. Dort kämpfen Intellektuelle, vor allem Ärzte, nicht nur gegen weibliche, sondern auch gegen männliche Genitalverstümmelung, hier eifern die intellektuellen Vorsprecher  aus Politik, Religion und Philosophie darum, den aktuellen Hunger des Kulturindustriemolochs nach dem Gegenteil zu stillen.

Nachdem der unersättliche Zeitgeist sich inzwischen anderen Fragen zugewandt hat, um sie genauso oberflächlich und unverbindlich zu verdauen, ist es an der Zeit, diese Frage unabhängig von ihrer aktuell politischen Opportunität zu betrachten.

1.: körperlicher Missbrauch

Auch in der intellektuell von der nordmalischen Sandwüste kaum mehr unterscheidbaren bundesdeutschen Geisteswüste gibt es kompetente und wissenschaftlich fundierte einsame Rufer. Der Psychotherapeut Professor Wolfgang Schmidbauer ist ein solcher. Anschaulich erklärt er die körperlichen Qualen, den Foltercharakter der Vorhautbeschneidung.

Bestätigt wird er von einem der wenigen Menschen, die in dieser Frage überhaupt objektiv Auskunft geben können, dem Autor Nils Juel, der sich als Erwachsener aus freiem Willen beschneiden liess . Aus chirurgischer Sicht sei der Eingriff gut verlaufen, berichtet Juel:
»Doch ich erlebte in den Tagen danach heftige Schmerzen. Ich frage mich bis heute, wie Erwachsene es verantworten, dass sogar neugeborene Jungen diese Schmerzen durchleben müssen. Wer sagt, dass es nicht wehtut, sollte einmal versuchen, in den Tagen nach dem Eingriff auf dem Bauch zu schlafen. Auch das Pinkeln war nicht gerade lustig – allein meinen Penis zu halten war schmerzhaft. Ich konnte damit umgehen. Aber Kinder? Muss das sein?«
Und er fasst zusammen:
»Wenn wir indes die religiöse und politische Rhetorik beiseite lassen, bleibt die Beschneidung von Jungen so schlicht wie klar eine sexuelle Verstümmelung.«

Das ist die eine Seite, die des Schmerzes, die allein ausreichen müsste, eine derartige Praxis restlos auf den Müllhaufen der Geschichte zu schmeissen.

Genauso unerträglich – und insofern weiterreichend, weil irreversibel -, ist die andere Seite, die der Lust, der sinnlichen Erfahrung beziehungsweise ihrer Einschränkung .

»Tatsächlich hat die Vorhaut wichtige erotische Funktionen«, schreibt Schmidbauer. Die Vorhaut hat sogar unverzichtbare erotische Funktionen, wenn der Geschlechtsakt kein reiner Besamungsvorgang sein soll. Schamlippen und Vorhaut sind die Initialzünder eines sinnlich erfüllten Geschlechtsverkehrs. Durch den anfänglichen Austausch von männlichen und weiblichen Flüssigkeitsabsonderungen, sind sie Türöffner im unmittelbaren Sinne des Wortes. Dazu ist die im Verlauf des sexuellen Vorspiels entstehende Flüssigkeit unter der Vorhaut conditio sine qua non. Vorhautbeschneidung heisst konkret, das wesentlichste des Vor-spiels ausser Gefecht zu setzen: wie die Eichel glänzend aus der Vorhaut herauswächst, um so auf sanftest mögliche Weise den glänzend geöffneten Schamlippen zu begegnen.

Die Entfernung der Vorhaut – wie der Schamlippen, aus deren Zusammenspiel die Lust erwächst – dient allein der Reduzierung der sexuellen Lust beziehungsweise der Verhinderung ihrer grösstmöglichen Entfaltung .
Vorhautbeschneidung leistet der Brutalisierung des Geschlechtsverkehrs Vorschub.
Sie schraubt den Geschlechtsverkehr tendenziell herunter zum reinen  Geschlechtsakt zum Zwecke der Fortpflanzung:
»Mit meiner Vorhaut war auch das überschäumende, sprudelnde Gefühl beim Orgasmus verschwunden. Leitungswasser statt Springbrunnen«.

Die Natur ist so organisiert, dass die Fortpflanzung zur Not auch ohne Lust funktioniert, Hauptsache, der Mann kann in die Frau eindringen und spritzt ab – Menschlichkeit wäre, die Lust zu optimieren. Beschneidung  minimiert sie.

Mehr noch: Die Vereinigung des männlichen und des weiblichen Geschlechtsteils ohne vorherige Erzeugung und Austausch von Flüssigkeit bei beiden nähert sich tendenziell der Vergewaltigung. Befürwortung von Vorhautbeschneidung redet tendenziell der Vergewaltigung das Wort. Fehlt nur eines der beiden Initialelemente wird der Geschlechtsakt zur tendenziellen Vergewaltigung.

Sexualität ist nicht normierbar, ihre Praktizierung, Art und Weise der Verwirklichung darf nicht einseitig durch körperliche Eingriffe programmiert werden.
Solange es von beiden gewollt wird, ist alles erlaubt. Wer gerne Sand zwischen Scheide und Penis spürt, soll Sand einführen, soviel er/sie will, wenn es Spass macht. Aber jede(r) muss die Wahl haben zwischen sanft fliessen lassen und rammeln:
Es kann und darf nur die freie Entscheidung eines jeden Menschen sein, diese oder jene sexuelle Praxis vorzuziehen.

Ein derart irreversibel an einem hilflosen Kind oder jungen Menschen exekutierter Eingriff nimmt einem am Anfang seines Lebens stehenden Menschen aber für immer diese Freiheit.

Auch Vorhautbeschneidung ist wie die Genitalverstümmelung von Frauen Missbrauch der Sexualität als solcher.

2.: Vertrauensmissbrauch

Wenn ich mir vorstelle, dass mein zwei-jähriger Sohn freudig lachend mit geöffneten Armen auf mich zuläuft, sich von mir hochheben lässt, sich an mich schmiegt, mich küsst und sagt: »Papi, ich liebe Dich!«, erwartet, mehr noch: davon ausgeht, dass ich ihn streichele, wir spielen, ich ihm etwas beibringe, eben, dass ich ihm nur Gutes, Schönes und Angenehmes tue –
ich ihn aber stattdessen auf eine Folterbank lege und ihm barbarische Schmerzen zufüge oder zufügen lasse, dann wird mir nur noch speiübel .

Niemand hat das Recht, einen derart traumatisierenden und vor allem nicht mehr rückgängig machbaren Eingriff bei einem wehrlosen Kind vorzunehmen.

Am wenigsten Eltern, denn sie vergehen sich an einem ahnungslosen Wesen, das ihnen natürlich und selbstverständlich das entgegenbringt, was überhaupt menschliches Zusammenleben möglich macht: Vertrauen.
Viel mehr noch: Ur-Vertrauen, das was menschliches Vertrauen als solches möglich macht.

Eltern haben im doppelten Sinne nicht das Recht, da ihre Pflicht nicht nur die körperliche Unversehrtheit des Kindes ist, sondern auch sein Glück. Wer ungefragt ein Kind in diese Welt setzt, muss auch alles dafür tun, dass es glücklich und erfüllt darin leben kann. Wer das Gegenteil tut, missbraucht es.

Eltern haben Verantwortung aber kein allumfassendes Verfügungsrecht. Eltern haben nicht das Recht irreversible Einschnitte in das Kind vorzunehmen. Eltern haben nicht das Recht, ihren Kindern Schmerzen zuzufügen.

Dieser Vertrauensmissbrauch, dieser Missbrauch des Urvertrauens, das Kinder in ihre Eltern haben, ist das Ende der Eltern-Kind-Beziehung. Ein grauenhafter Initiationsritus, ähnlich dem Vogel, der aus dem Nest geworfen wird. Ein archaisches Ritual, das unschuldige Kind mit der Härte des Lebens konfrontieren soll.

Ein, einer zivilisierten Gesellschaft unwürdiges, beschämendes Ritual, das schamlos und böse berechnend das Urvertrauen des Kindes ausnützt und ihm damit Misstrauen gegenüber allen anderen Menschen einimpft .

Und das ist das Grundprinzip jeglichen Terrors: das schamlose und böse berechnende Ausnützen von Vertrauen.

Das Ausnützen von Vertrauen, ohne das menschliches Zusammenleben nicht möglich wäre. Wer in ein Kaufhaus geht, in eine Bank oder zu seiner Arbeit, hat das Vertrauen, dass niemand ihm Böses tut. Das nützt der Terrorist aus, geht mit versteckter Maschinenpistole in ein Kaufhaus, eine Bank oder ein Büro und verletzt oder tötet ahnungslose, wehrlose und hilflose Menschen.

Im Moment sind es vor allem Vorhaut-beschnittene Muslime, die das tun – warum sollten sie auch nicht das anderen zufügen, was ihre eigenen Eltern ihnen angetan  haben.

Beherrsche den anderen, bevor er dich beherrscht. Unterdrücke ihn gewaltsam, bevor er dich unterdrückt. Bring ihn um, bevor er dich killt.

Wenn man freilich bedenkt, dass männliche wie weibliche Genitalverstümmelung zu den ältesten Traditionen überhaupt gehört, überall ausgeübt und lange vor der Entstehung des Monotheismus in Vorderasien praktiziert; wenn man des weiteren bedenkt, dass die männliche Genitalverstümmelung sich bis hin in die heutige US-amerikanische Gesellschaft streckt, dann weist diese Tatsache darauf hin, dass es, jenseits von religiösen oder angeblich medizinischen , auch einen  tief verwurzelten gesellschaftlichen Grund, besser gesagt: Vorwand dafür gibt.

Macht. Der Sinn dieses abscheulichen Rituals ist Herrschaft auszuüben und ihre Reproduktion zu sichern. Herrschaft als Grundlage jeder weiteren Herrschaft wie der Name schon sagt, Herr-schaft von Männern über Frauen.

In den Naturgesellschaften, die noch an die Anfänge der Menschheit erinnern, in denen sie bei sich den Unterschied zum Affen erkannte, wird explizit die männliche Genitalverstümmelung mit der Notwendigkeit erklärt, das weibliche Element des Mannes auszumerzen, die Empfindlichkeit der Eichel (wie umgekehrt bei den Frauen das männliche, die Klitoris, um sie nur noch auf die lebensfeindliche angebliche Hauptfunktion der Frau als empfindungslose Gebärmaschine zu reduzieren), um ihn hart zu machen, rücksichtslos, an entscheidender Stelle empfindungslos, damit er im alltäglichen Krieg des jedergegenjeden-Patriarchats seinen Mann stehen kann.

Noch besser als am Verhalten radikaler Islamisten, kann diese heute noch aktuelle Praxis aus den dunkelsten Anfängen der Menschheit am Verhalten der US-amerikanischen Gesellschaft erkannt werden, deren männliche Mitglieder zum grössten Teil ohne jeden bezug auf Religion oder andere Vorwände beschnitten werden. Sie schaffen Vertrauen mit Coca Cola und McDonalds und schicken danach Drohnen. Und können überhaupt nicht verstehen, dass ihnen mit Selbstmordattentaten geantwortet wird.

Missbrauchtes Vertrauen erzeugt Misstrauen gegenüber den anderen Menschen. Dieses Verfahren kann sich fortsetzen bis ultimo. Vor allem, wenn es in frühester Kindheit brutal eingeschnitten wird.

Dass nicht die Erhaltung von schützenswerten Traditionen oder für das menschliche Zusamenleben notwendigen Ritualen der Grund für die Vorhautverstümmelung ist, sondern einzig und allein Machterhalt und Machtreproduktion, zeigt, dass es noch eine Menge anderer, genauso tief sitzender Rituale und Traditionen gibt.

Auch Auspeitschung von Menschen, deren Sexualverhalten nicht religiösen Vorschriften entspricht, ist eine jahrtausendealte Tradition. Hände abhacken von Dieben gehört auch dazu. Ehebruch – bezeichnenderweise nur von Frauen – gehört genauso dazu wie die Verstümmelung ihres Geschlechtsteils.

Wieso müssen diese Traditionen und Rituale nicht genauso geschützt werden?

Weil sie bei uns zur Reproduktion der bestehenden Herrschaftsverhältnisse nicht mehr notwendig sind – nicht aus moralischer Grösse oder Erkenntnis und Respekt menschlicher Werte und einer übergeordneten Ethik. Bereits in Westafrika ist das anders. Zeigt aber genauso, dass es bei Genitalverstümmelung allein um Aufrechterhaltung und Reproduktion von Machtstrukturen geht.

Ich habe in den zehn Jahren meines Lebens in Mali viele kleine, unbeschwerte, liebenswerte und vertrauensvolle Kinder, Jungen wie Mädchen, oft sogar mit fast verwandtschaftlicher Nähe, kennengelernt. Es gehört zu den deprimierendsten Erfahrungen dieser Zeit miterleben zu müssen, wie sich der Charakter der Kinder, Jungen wie Mädchen, nach der Beschneidung veränderte. Aus offenen, vertrauensvoll auf andere zugehenden kleinen Mädchen, wurden scheue, ängstliche und, schnell erkennbar und, aufgrund ihrer grauenhaften Erfahrung gut nachvollziehbar, sogar heimtückische. Dieselben Augen, die mich vorher liebevoll angestrahlt hatten, sandten jetzt hasserfüllte Blicke. Ich glaubte Rachegelüste zu spüren. Die Jungen, die den Kontakt zu dem Erwachsenen gesucht hatten und von ihm lernen wollten, wurden misstrauisch, ihre Blicke vorsichtig, in Deckung gehend, sich gegen eventuell Schlimmes wappnend.

So tolerant und vor allem vorbildlich dialogbereit ich die malische Gesellschaft erfuhr, so sehr durchzog sie ein ubiquitäres Grundprinzip: Misstrauen – vielleicht eine umgekehrt proportional gegenseitige Bedingung. Von Anfang an schärften mir Freunde ein: »traue keinem, auch nicht Deinem besten Freund, nicht einmal mir«. Genauso erfuhr ich das Verhältnis meiner malischen Freunde und Bekannten untereinander.

Das lässt sich sicher auch mit allen möglichen ethno- und anthropologischen Gründen erklären – aber deren Grundlage ist die elementare, tiefsitzend traumatische Kindheitserfahrung der Beschneidungsfolter, weiblich wie männlich.

Und wie funktioniert deren Reproduktion?

Nicht durch Zwang, Gewalt oder Indoktrination, sondern durch Verinnerlichung. Die nach Jahrtausenden, selbst unabhängig von religiösen Vorschriften, so tief sitzt, dass selbst die besten intellektuellen Widersprüche fruchtlos sind. Und gegen die als wichtige Voraussetzung zur Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse nur schwer anzukommen ist.

Ich kannte fast nur Schamlippen-beschnittene Frauen. Sie alle waren der Meinung, unbeschnittene Frauen seien gar keine richtigen Frauen. Frauen mit Klitoris wüssten nicht, wie Männer zu befriedigen seien: »unsere Tür steht jederzeit offen für Euch Männer! Ihr könnt Euch jederzeit an uns befriedigen«. Diese verzweifelte Notlüge habe ich nicht nur einmal gehört.

Genitalverstümmelung ist und bleibt Genitalverstümmelung. Warum für Männer nicht gelten soll, was für Frauen selbstverständlicher Konsens ist, kann ich nicht nachvollziehen. So klar wie es für Frauen abzulehnen ist, Teile ihrer Geschlechtsorgane zu entfernen, muss es auch für Männer sein .

Wenn Politiker oder Intellektuelle aber – vornehmlich in Deutschland – eine gesetzliche Verankerung der Vorhautbeschneidungsfolter befürworten, hat das allein opportunistische Gründe, die, weiter gedacht, gefährlich sind.

Welche Religion und welche jeder ihrer unendlich vielfältigen Ausübungsvarianten und Traditionen ist schützenswert? Das orthodoxe oder das liberale Judentum? Sunniten oder Salafisten oder Schiiten oder Sufis? Katholiken oder Evangelen oder freigläubige oder Mormonen? Was ist mit den Animisten, immerhin die älteste Religion, die es gibt? Wie gross muss die Lobby sein, um politische Unterstützung zu bekommen? Welche politischen oder finanziellen Interessen oder – im Falle Deutschland – historische Lasten müssen gegeben sein, dass völlig irrational fortschrittliches Denken in einem bestimmten Punkt einfach ausgeschaltet wird? Ist die Thora etwas besseres als die Scharia?

Wenn es unter Berufung auf den Holocaust möglich ist, Ausnahmen von der Strafbarkeit von Körperverletzung zu machen, weil es einigen jüdischen Mitbürgern möglich gemacht werden soll, ihr Verständnis der Ausübung ihrer Religion auszuüben, obwohl sie nicht einmal alle jüdischen Mitbürger repräsentieren und auch kein absolut unverzichtbares Ritual ausüben wollen, dann ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis unter Berufung auf die wirtschaftliche Abhängigkeit von Qatar und Saudi-Arabien weibliche Genitalverstümmelung nicht mehr mit zwei bis vier Jahren Gefängnis bestraft wird. Finanzielle Zwänge sind wesentlich zwingender als historisch-moralische. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch die in Deutschland lebenden Muslime fordern werden, ihre alte schützenswerten der blutigen Klitorisverletzung praktizieren zu dürfen.

Wo bleiben die Kinderschutzverbände? Warum verabschieden die verantwortlichen Politiker kein Gesetz, das Selbstverstümmelung ab 18 Jahren erlaubt? Kein Gläubiger egal welcher Religion könnte dann ernsthaft behaupten, die Ausübung seiner Glaubensvorschriften würde ihm in Deutschland verboten.

Ich selbst habe von mütterlicher Seite jüdische Vorfahren. Niemals wurde von den überlebenden Verwandten ein  derart abstossender Akt als unverzichtbarer Bestandteil des Judentums bezeichnet. Die Berufung auf die religiösen Riten des Judentums und ihre Unantastbarkeit der Vorhautverstümmelung wegen der Ermordung von Millionen Juden während der Nazizeit ist ein Missbrauch der Opfer des Nationalsozialismus.

3.: Glaubensmissbrauch

Religionsvertreter, die die männliche Genitalverstümmelung praktizieren, geben als Rechtfertigung für dieses Leiden an, dass damit ein »Bund mit Gott« vollzogen werde.

Was wäre das für ein Gott, der Geschöpfe erschafft, denen, ohne ihre Zustimmung von dritten Schmerzen zugefügt werden müssen, damit er sie anerkennt?
Was wäre das für ein Gott, der die Geschöpfe, die er geschaffen hat, quälen lässt, damit sie sich ihm zugehörig fühlen dürfen?
Was wäre das für ein  Gott, der den Menschen als grösstes Geschenk zur Erfahrung ihrer Lebendigkeit Sexualität mitgibt – und diese, kaum dass die Menschen auf der Welt sind, wieder entscheidend einschränkt?

Das wäre ein Gott, der menschliche Eigenschaften hat. Ein Gott, der in Wirklichkeit ein supertotalmegagepowerter Übermensch ist. Ein Gott, der sich bei genauem Nachdenken als Projektion entpuppt.

Dahinter steht eine Gottesvorstellung, der es gar nicht um Gott geht, sondern die Glauben an Gott, das Bedürfnis der Menschen, der Unerklärlichkeit des Daseins einen  Sinn und ihnen damit Halt zu geben, die Hoffnung der Menschen, ihrer Zerstrittenheit ein einigendes Ziel zu geben, ihre Sehnsucht nach Gnade, Verzeihung und Frieden –
Eine Gottesvorstellung, die all das dazu missbraucht, gnadenlos menschliche Interessen durchzusetzen.

Vielleicht muss man Ungläubiger sein, um, unabhängig von den Gruppenzwängen der Religionsgemeinschaften, die Gottesidee als eine absolute, jenseits menschlicher Charakterzüge und ausserhalb menschlicher Vorstellungskraft stehende sehen zu können.

Wenn es Gott gibt, und darin könnten sich Gläubige wie Ungläubige einig sein, ist er allwissend, allmächtig, allumfassend und:
nur Gutes tuend.

Wer an Gott glaubt, kann ihn also nur  als das sehen, was einer Vorstellung von Gott im Unterschied zum Menschen entspricht:
jenseits von Gut und Böse, jenseits von oben und unten, jenseits von richtig oder falsch, an einem Ort, zu dem wir keinen Zugang haben, und mehr wissend als wir je wissen werden können.

Wer an Gott glaubt, kann ihn also nur als eine Instanz erkennen, die mehr weiss als wir –
und nicht ihn kritisieren, gar korrigieren.

Wer an Gott glaubt, geht davon aus, dass der Mensch das Werk Gottes ist:
wer also die Vorhaut beschneidet,  greift in das Werk Gottes ein.

Wer dieses Werk aus menschlichen Gründen wie sozialen oder rituellen  Zwängen mit der Folge der Unterdrückung der sexuellen Entfaltung irreversibel vesrtümmelt, missachtet den Schöpfer dieses Werks, unterstellt ihm, unvollkommene Arbeit geleistet zu haben .

Denn Gott, als Schöpfer begriffen, wusste schon, warum er Menschen Vorhaut und Schamlippen mitgegeben hat; er hat diesen Organen einen Sinn, eine Funktion, einen Auftrag gegeben.

Man muss die Interpretation, dass diese Organe der Erhöhung der Lust dienen sollen, nicht einmal teilen:
sie sind da, selbst wenn sie aus Gründen da sind, von denen wir nichts wissen.

Was steckt also in Wirklichkeit hinter diesem – mit den Kriterien gläubiger Menschen gesprochen – Frevel an dem Werk Gottes, der Missachtung seiner Schöpfung, was steckt hinter der Anmassung, Gottes Arbeit – auch noch blutig schmerzhaft – korrigieren zu dürfen?

Hauptkennzeichen jeder Religion ist Beschränkung, Einschränkung, Unterdrückung der Sexualität. Der Grund dafür ist ursprünglich sicher auch ein zivilisatorischer: Zügelung unmittelbarer Triebe, Erzeugung von Respekt und Achtung der Bedürfnisse der anderen Menschen. Solange sich noch keine Erkenntnis durchgesetzt hatte, warum freiwillige Absprachen unter den Menschen die Lebensqualität aller Menschen erhöhen, mussten religiöse Vorschriften als Grund herhalten.

Das mag im Verlauf der Menschheitsgeschichte anfänglich eine Funktion zur Bewusstwerdung menschlicher Umgangsformen gehabt haben –
heute braucht es das nicht mehr.
Es gibt also nur einen Grund für diese Funkionalisierung der Religion, diesem Missbrauch des Vertrauens gläubiger Menschen, dieser Umkehrung göttlicher Intention:
Die Unterdrückung der Sexualität zum Zwecke der Umleitung ihrer angestauten Energie in den Profit-orientierten Produktionsprozess, die Gründung, Erhaltung und  Sicherung längst überkommener patriarchalischer Dominanz:
Die Perpetuierung gewaltsamer Machtausübung.

In Wirklichkeit kann der »Bund mit Gott« viel besser und glaubwürdiger von erwachsenen, bewussten Menschen vollzogen werden als vom unbewussten Kleinkind.

In Wirklichkeit ist der »Bund mit Gott« als freiwilliger, bewusster ein viel verbindlicherer, gültigerer, glaubhafterer als ein aufgezwungener.

In Wirklichkeit ist die Beendigung der Beschneidung von Frauen wie Männern ein weiterer Schritt zur Optimierung der sie praktizierenden Religionen.

Christof Wackernagel
10.03.2015

Schwarzafrika, das weisse Blatt Papier

Zu Christoph Schlingensiefs Albtraum eines Operndorfs für einen Mörder.

Dass sich das Leben in den Genussmetropolen dieser Erde gar nicht so genüsslich erleben lässt wie in der Werbung versprochen – »mit Genussgarantie« – hat sich inzwischen herumgesprochen. Freudlosigkeit, Isolation und Angst bestimmen den Alltag und können auch mit Konsumsteigerung, internetchat und Alkohol nicht verdrängt werden. Esoterik, Fitness und sowieso alles Bio bringen auch nicht so recht das ersehnte Glück – kein Wunder, dass sogar gestandene Konservative inzwischen die Kapitalismuskritik entdeckt haben.

Aber es gibt einen Ausweg aus dieser verfahrenen Situation. Es stimmt nicht, dass »man nichts machen kann«! Die ganzen wohlfeil formulierten Klagen von Wertezerfall und Sinnverlust werden Lügen gestraft mit nur einem Zauberwort, das selbst Künstlern als Balsam gegen die vollgestopfte Leere der Kulturindustrie dient:
Afrika.

Afrika wird neu entdeckt: Schwarzafrika, das weiße Blatt Papier.

In Afrika kann man sich endlich mal so richtig austoben. In Afrika kann man nach Lust und Laune die Sau rauslassen. In Afrika kann der gehobene, politisch und kulturell bewusste Mittelstandsbürger die Ärmel hochkrempeln und kernig all das verwirklichen, was in unserer langweiligen europäischen Überflussgesellschaft nicht mehr drin ist.

In Afrika hat man eine Generallizenz für noch den absurdesten Blödsinn, der einem über die Leber läuft, denn
– in Afrika leben lauter arme, unfähige und hilflose Menschen, die ohne uns verloren wären!
– in Afrika gibt es keine Kultur – den Leuten muss man ja noch das 1×1 beibringen, worauf sie ein Recht haben, sind doch schliesslich auch Menschen wie du und ich!
– in Afrika leben die Opfer unserer Kolonisierung, da müssen wir etwas wieder gut machen!

Und der von seiner Frustration gequälte Mitteleuropäer schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: endlich hat das Leben wieder einen Sinn und man steht auch noch ganz toll da, kann sich auf die Schulter klopfen, wieder in die Augen sehn und in den Schlaf des Gerechten verfallen. Hilfe für Arme, Kampf gegen Krankheit und Hunger, sinnvolle Entwicklungshilfe – und das auch noch kombiniert mit erlebnisorientierter Urlaubsgestaltung: was will der Mensch mehr?

Eines der abstossendsten Beispiele für diese immer noch ungebrochene und kaum in Frage gestellte Haltung ist das von dem leider früh verstorbenen Regisseur Christoph Schlingensief initiierte Operndorf in Burkina Faso. Unzweifelhaft wollte Schlingensief nur das Beste und kannte sich mit den örtlichen Gegebeneheiten nicht aus, aber Unwissenheit schützt nicht vor Kritik. Und es geht hier nicht um Schlingensief, sondern um den exemplarischen Charakter seiner Initiative.

Hier kommt alles zusammen, was der Markt der unerfüllten Sehnsüchte dem intellektuellen, engagierten und sich seiner politischen Verantwortung bewussten Mitglied der europäischen Zivilisation zu bieten hat –
und offenbart damit seine Haltung:

– wir da oben, die da unten
– wir sind überlegen, die sind unterlegen
– wir sind keine Ausbeuter: was früher Unterdrückung war, ist heute Hilfe
– wir sind wichtig
– unsere Kultur ist die einzige, die diesen Namen verdient
– wir sind selbstlos und altruistisch
– wir wissen, was diese Menschen brauchen – deshalb brauchen wir sie nicht zu fragen, ob sie es überhaupt wollen
– wer zahlt, hat das Sagen, wer nimmt, hat die Schnauze zu halten und dankbar zu sein
– wir sind Subjekt, sie sind Objekt
– am europäischen Wesen soll Afrika genesen

Da man das nicht laut sagen darf und die Akteure dieser Haltung sich erfolgreich verbieten, es auch nur zu denken, beschwören sie eins ums andere Mal das Bild von der »gleichen Augenhöhe«, auf der sie als fortschrittliche, aufgeklärte Menschen agierten.

Davon kann in beiden Richtungen keine Rede sein.

Wenn Christoph Schlingensief, der der deutschen Kultur so viele Anregungen schenkte, dem Staatschef von Burkina Faso, Blaise Campoare, einem notorischen Menschenschinder und Mörder seines Vorgängers (was C.S. vielleicht nicht wusste) ein derart nettes, publizitätsgeladenes Geschenk wie ein Operndorf mit angegliederter Schule macht, reibt letzterer sich die Hände und lacht sich ins Fäustchen. Seine Verachtung gegenüber dieser Weissnase, die ihn davon befreit, selbst Schulen zu bauen, obwohl er und sein Land es mehr als ausreichend könnten, entspricht der Verachtung des europäischen Zeitgeistkünstlers gegenüber diesem Marionettenkaiser, der froh sein kann, dass wir uns überhaupt mit ihm abgeben.

Was Frantz Fanon schon in den 50er Jahren als »komplementär neurotisches«  Verhalten zwischen Schwarzen und Weissen diagnostizierte, kommt im neuen Jahrtausend erst richtig zum Zuge: die »Konstellation des Deliriums« hat mit dem Operndorfwahn das Delirium tremens erreicht.

Es ist die erschütterndste Erfahrung meines zehn-jährigen Aufenthalts im Nachbarland Burkinas, Mali, dass die komplementäre Verachtung zwischen Weissen und Schwarzen das Verhältnis so nachhaltig zerstört hat, dass keine Besserung in Aussicht scheint. Da fehlte nur noch ein Operndorf. Denn damit kommt auf den Begriff, was gespielt wird:

Der Herrenmensch feiert fröhliche Urständ.

Er hat die Militärstiefel mit dem Airbus vertauscht, den Feldstecher mit der Digitalkamera und das mit Powerpoint Munition geladene Maschinengewehr mit dem mit Powerpoint Dateien geladenen Laptop.
Der neue Herrenmensch fällt nicht in Kontinente ein wie einst die Siedler in Amerika – nein, er mietet sich in klimatisierten Hotels ein, die er zu diesem Zweck bauen lässt und zu deren Betrieb er Solaranlagen installiert, er durchpflügt nicht mit Panzern das wilde Land, er durchpflügt es mit vierradangetriebenen Landrovern, er metzelt die Eingeborenen nicht mehr ab, er beschenkt sie mit Kugelschreibern, Highlightern und abgetragenen, aber durchaus noch brauchbaren Klamotten.
Der neue Herrenmensch kämpft nicht mit Waffen, sondern mit Worten: er nennt sein Diktat von nun an »Cooperation«, »vertragliche Vereinbarung« oder, um das unermessliche Ausmass seiner Grosszügigkeit deutlich zu machen, »Geschenk«.
Der neue Herrenmensch schiesst nicht mehr – er zahlt. Und wer zahlt, hat das Sagen. Ohne Moos nix los. Also soll jeder froh und dankbar sein, dem der neue Herrenmensch das Geld hinterherträgt.
Der Herrenmensch braucht keine Strategien mehr: er macht Projekte.
Er »führt« Projekte »durch«, er »realisiert« Projekte: er vollstreckt Projekte.

Nun ist freilich schon fast die ganze Welt mit Projekten zugepflastert, nur ein Kontinent bietet noch das, was der neue Herrenmensch sucht: weites, unbebautes Feld, schrankenlose Entfaltungsmöglichkeiten, bedingungslose Handlungsfreiheit.
Dieser Kontinent heisst Afrika.
Schwarzafrika – das weisse Blatt Papier: Projektionsfläche für in Europa unerfüllbare Träume.

Es gibt dort zwar auch Menschen, aber die sind schwarz, die sieht man nicht, und wenn sie sich doch irgendwie bemerkbar machen, drückt man ihnen eine Schaufel in die Hand, und lässt sie eine Schule bauen: so kehrt bei diesen Halbaffen endlich mal die Zivilisation ein und ein Taschengeld bekommen sie noch dazu!
Neokolonialismus kommt heute als Kulturkolonialismus daher: der Feldherr mit dem Opernglas, Napoleon als Operettenfigur, Livingstones Tochter ist heute Projektinspektorin mit breitkrempigem Sonnenschutz. Nach der politischen die kulturelle Versklavung.

Und wie sollen die Menschen reagieren, wenn sie mit solchen Zumutungen konfrontiert sind?

»Les blancs sont la pour payer« (die Weissen sind da um zu zahlen) – so haben es einige sogar ausgesprochen, so denken alle. Diese arroganten Besserwisser in ihren fetten Vierradautos, Villen mit Pool, in einem Land, in dem die Mehrheit der Bevölkerung kein sauberes Trinkwasser hat, ihrem protzigen Verhalten, mit dem sie Geld um sich schmeissen, das nicht einmal ihnen gehört, diese Sonnenbrillenträger mit ihren Waffen, ihren Schrott-Containern, die sie bei uns entsorgen und noch Dankbarkeit dafür fordern,  ihrer herablassenden Grosszügigkeit – das sind doch gar keine richtigen Menschen: so werden sie jedenfalls von denen gesehen, die sie beglücken wollen. Sie gelten als grob, unsensibel, kommunikationsunfähig, »Empathie« ist ein Fremdwort für sie, sie erkennen keine Zeichen, keine Haltungen, keine Signale, sie verstehen nichts von Natur, von Geist, von Ausstrahlung, kurz: sie sind in den Augen derer, die sie für primitiv halten, selbst primitiv. Das sagt man ihnen natürlich nicht – sie sollen ruhig an ihre Überlegenheit glauben, solange sie zahlen.

Im Flugzeug sass einmal ein gut gekleidetes Paar aus Mali hinter mir. Die beiden flogen von Geberverhandlungen aus Paris zurück in ihre Heimat. Sie amüsierten sich königlich über die Uninformiertheit der Geldgeber, ihr schlechtes Gewissen und wie einfach es sei, mit gewissen Ausdrücken und Gesten Geld locker zu machen. Running Gag in dieser Lachparade der Verachtung in der Sitzreihe hinter mir war das Wort »Projekt«: es auszusprechen und eine Kalkulation in dreifacher Ausfertigung beizulegen funktioniert wie ein Klick auf dem Rechner und das Geld wird ausgespuckt. Danach kümmert sich keiner mehr drum. Unterbrochen wurde das Gespräch, als die beiden sich ausgiebig im duty free shop bedienten.

Dass Schlingensief in der ganzen Welt keinen Ort fand, seinen Plan zu verwirklichen, sondern erst in Burkina Faso fündig wurde, ist kein Wunder.

In Burkina Faso regierte in den achtziger Jahren des letzten Jahrhundert ein Präsident, der sämtliche Klischees des »typisch afrikanischen Potentaten« auf den Kopf stellte. Sein Name ist Thomas Sankara, bis heute unvergessener grösster Hoffnungsträger, den Afrika je hatte. Er schaffte die Dienstmercedesse ab und ersetzte sie durch R4 Kleinwägen,  er trug einfache Kleidung aus burkinischen Stoffen, er lebte in einem einfachen Häuschen und lehnte »Hilfe« von aussen ab: »wir sind stark, wir sind ein reiches Land, wir haben alles und können alles selbst produzieren. Der Reis auf unseren Tellern, den uns der Westen schickt, macht uns ohnmächtig, macht uns zu Bettlern, zu Almosenempfänger, blockiert unsere Entwicklung«.

Es ist klar: der Mann musste sterben. Sein Mörder: Sankaras Stellvertreter, engster Vertrauter und politischer Ziehsohn, Blaise Campoare, noch heute, inzwischen fett gewordener, Diktator Burkina Fasos. Schnell stellte er die alten Verhältnisse wieder her und vertiefte sie: John Taylor, dem Menschschlächter in Liberia lieferte Blaise Campoare noch Waffen gegen Gold und Juwelen, als Taylor längst von aller Welt isoliert war (die ZEIT berichtete). Im letzten Jahr kassierte Campoare als »Vermittler« in der Mali-Krise vor allem von der bewaffneten Organisation MNLA seinen Anteil an deren Menschen-, Zigaretten-, Kokain- und Uranhandel.

Da kommt ein Operndorf richtig gut. Zumal das Mordverfahren in Den Haag gegen ihn anhängig ist – so eine publicity lässt sich kaum bezahlen. Im Gegenteil, an dieser Schickmicki – Charity verdienen sogar noch einige:
500 000 Euro, brüsten sich die Campoare Helfer, seien schon ausgegeben worden, um ein paar modern gekühlte Schulräume zu bauen.

Wiebitte?

Für 500 000 Euro inklusive Grundstück kann man in Mali, wo Baumaterial teurer ist, fünf dreostöckige Häuser bauen, mit jeweils fünf Bädern, plus angehängten Geschäftsräumen –
was ist mit dem vielen Geld geschehen, an dem sich der »Bochum«-Sänger Groenemeyer allein mit 100 000 Euro beteiligt hatte?
Wieso musste ein Berliner Stararchitekt mit afrikanischen Wurzeln die Schulräume entwerfen – gibt es in Burkina Faso keine Architekten? Können sie nicht so medienwirksam über die unerträglichen schulischen Zustände in ihrer Kindheit klagen? Hat er ohne Honorar gearbeitet?
Wo ist das ganze Geld geblieben, mit dem man fünf Schulen hätte bauen können, wenn man schon den armen Herrn Campoare und den burkinischen Staat nicht damit belasten will? Und schon gar nicht den unermesslichen Reichtum der Oberklasse Burkina Fasos, die ihr Geld auf den internationalen Finanzmärkten arbeiten lässt anstatt Steuern zu zahlen, nicht antasten will?
Warum fahren die Initiatoren des »Operndorfs« eigentlich nicht nach Afrika und fragen die dort lebenden Menschen erstmal, wo sie eigentlich der Schuh drückt, wenn sie ihnen unbedingt helfen wollen?
Warum fördern sie nicht die von Hiphop und RAP immer weiter ins Abseits gedrängte afrikanische klassische Musik, wenn sie schon Traditionen bewahren wollen?
Warum errichten die Initiatoren des »Operndorfs« nicht ein Musikdorf zum Beispiel in der Lüneburger Heide, in das sie Musiker aus aller Welt einladen, die sich dort austauschen und voneinander lernen?
Warum benehmen sie sich statt dessen so, als ob in Burkina keine Menschen lebten; als ob diese nicht selbst wüssten, was sie bräuchten und was nicht?
Warum eine (Luxus!)Schule, wenn gerade in Burkina Faso eine grosse Anzahl Kinder vor dem Erreichen des Schulalters an verseuchtem Wasser stirbt und vielleicht ein Trinkwasserprojekt naheliegender wäre, auch wenn Burkina auch das selbst finanzieren könnte?

Das Traurige an derartigen Initiativen ist, dass die Kräfte in Afrika, die tatsächlich die Verhältnisse ändern wollen, durch diese von aussen kommenden, die wirklichen Bedürfnisse ignorierenden Massnahmen, behindert werden.

Und auch wenn es unangenehm ist:
Warum haben Menschen das Bedürfnis, sich in Afrika einzumischen, obwohl sie keine Ahnung von den Bedürfnissen der dort lebenden Menschen haben?
Weil sie in Europa das nichtswürdige Wesen sind, das unsere Hochkultur aus dem Menschen macht – in Afrika aber der grosse Macker, als der sie sich selbst verstehen. Es geht um Rekonstruktion mangelnden Selbstbewusstseins, Reparatur erniedrigten Selbstwertgefühls, böse Zungen nennen das sogar neokolonialistische Selbstbefriedigung unerfüllter Allmachtsphantasien.

Die Folge davon ist die Zerstörung der Moral der betroffenen Menschen, die Erzeugung einer fatalistischen Empfängerhaltung: wieso selber noch etwas auf die Beine stellen, wenn man nur zu warten braucht, bis irgendwelche Weissen kommen und Geld ausspucken.

Die unheilige Allianz der neuen Herrenmenschen mit ihren einheimischen Partnern verhindert genau die Entwicklung, die sie behauptet zu fördern. Sie erzeugt eine ökonomisch, politisch und kulturell völlig perspektivlose »Projekt-Gesellschaft«, die im zwei- bis drei-Jahres Rhythmus der Projekte vor sich hin west. Sie leitet die Zerstörung der Menschenwürde, unter der unsere Gesellschaft leidet, weiter.

Christof Wackernagel
15.1.2014

 

Etikettenschwindel

»Wollen Sie diese Eier?«, fragte mich ein Ladenbesitzer in Bamako, der Hauptstadt Malis. Er stand vor seinem Büdchen und deutete auf einen Turm von mindestens zehn Beugen Eierkartons, die in der tropischen Hitze vor sich hinbrüteten, »oder wollen Sie normale Eier?«

Ich stutzte. Was meint er nur? Eier sind doch Eier, sind unnormale Eier eckig oder was? »Was ist der Unterschied?«, fragte ich den Eierverkäufer. Er nickte mir verschwörerisch zu, griff hinter sich, zauberte ein Tütchen mit ziemlich kleinen, dreckigen Eiern hervor und sagte: »die sind von normalen Hühnern, die normal in der Gegend herumlaufen und normales Futter picken, das sie im Hof finden oder für sie gestreut wird – nicht von diesen Gefängnishühnern, die nur chinesisches Abfallfutter bekommen!«

Langsam dämmerte mir, was er meinte: Bio-Eier! Schlicht natürlich entstandene Eier von frei laufenden, glücklichen Hühnern – und ich dachte: »guck mal an! Die haben auch schon ökologisches Bewusstsein hier, von wegen ›Entwicklungsland-‹!« Demeter Norm hatten sie wohl nicht, da ja auch die Menschen, deren Reste sie frassen, vergiftetes Zeugs zu sich nahmen, aber die bio-light Europa Norm hatten sie bestimmt und entscheidend war: die Haltung stimmte!

Glücklich, mal wieder ein Vorurteil gegenüber angeblich rückständigen Menschen ausgeräumt zu haben, trug ich meine normalen Bio-Eier nach Hause, die, wie in Deutschland, das doppelte gekostet hatten und die es, wie mir der Verkäufer versicherte, nicht immer gab, da normale Hühner nicht ständig Eier legen. Wahrscheinlich hatte er sie mir nur angeboten, weil er wusste, dass ich als Weisser das nötige Kleingeld hatte, gestand ich ihm grosszügig zu.

Aber irgendetwas nagte an meinem gönnerhaftem Wohlwollen, irgendein Widerspruch klopfte an mein Bewusstsein, irgendetwas stimmte nicht an diesem normalen Bio-Durcheinander -!?

Da stand also »normal« gegenüber »bio«. Was sagt uns das? Dass »normal« normal ist und »bio« etwas besonderes, mit zusätzlichem Aufwand und den Erkenntnissen der menschlichen  Wissenschaft und Zivilisation angereichertes –
aber – – –
das stimmt doch gar nicht!!

In Wirklichkeit ist »Bio« normal, nämlich so, wie es seit Jahrtausenden der Fall ist, seit es nämlich Eier legende Hühner, Äpfel tragende Bäume und Karotten erzeugende Samen gibt! Unnormal ist es, Hühner in winzigen Käfigen zu halten, sie chemisch aufzupäppeln und aus Tieren Maschinen zu machen! Und noch unnormaler ist es, etwas als besonders dar zu stellen, das in Wirklichkeit normal ist, genau genommen sogar eine Lüge!

Das werden doch die Tatsachen auf den Kopf gestellt, fuhr es mir wütend in meinen Kopf, als ich meine kleinen, dreckigen normalen Eier zu Hause auspackte, das ist doch Etikettenschwindel:

»Achtung vergiftet!« müsste als Warnung auf Kartons mit Eiern stehen, deren Legehennen mit chemisch aufbereitetem Trockenfutter gehalten wurden.
»Von zu lebenslänglichem Knast verurteilten Hühnern!« müsste prominent hervorgehoben auf den entsprechenden Kartons stehen – nicht »von freilaufenden« auf denen mit normalen Eiern: jedes Kind weiss, dass Hühner frei laufen, das ist normal, darauf muss man nicht hinweisen.
Fotos von den Massenminikäfigen, in denen die Industrielegehennen vor sich hin vegetieren, müssten auf Kartons mit Eiern abgedruckt werden, die dort gelegt wurden – nicht Fotos von grünen Wiesen, auf denen normale Hühner herumstolzieren wie seit tausenden von Jahren, die kennt jeder, da könnte man sich die Druckkosten sparen und die Eier dafür billiger machen:

einfach nur graue Eierkartons ohne Aufdruck – wie früher! – und jeder weiss, das sind normale Eier, die man bedenkenlos essen kann, so müsste das sein!

Aber sobald auch nur ein Gramm Fischmehl gefüttert wurde, sobald Gitter die Bewegungsfreiheit einschränken, sobald Flügel gestutzt wurden, müsste auf den Packungen von Hochglanzfotos verifiziert stehen: »von gefolterten Hühnern!«, »von Hennen, die noch nie einen Strahl Sonne gesehen haben!«, »von Tieren, die zu Maschinen gemacht wurden!«.

Dass dies nicht der Fall ist, zeigt wie fix und fertig diese Gesellschaft ist, die nur die eine Perspektive hat: sich selbst zu Grunde zu richten, bis nur noch ein schwankender Haufen virtuelles Geld übrig ist und auf verlassenen Festplatten in verlassenen Börsenzentren vor sich hin zittert.

In München, der Hauptstadt des Freistaates Bayern, versuchte ich, in einem Supermarkt einzukaufen ohne von der mich schlottern lassenden Klimaanlage und der säuselnden Musik abgelenkt zu werden. Die Erinnerung an das Schaufensterbild eines Luxusgeschäfts am Rathaus liess mir keine Ruhe: es wurde dort normale Milch angeboten, die sich nur die Creme der Münchner Schickeria leisten konnte – »heute morgen direkt vom Bauernhof, direkt von der Kuh, die keine Antibiotika bekommen hat, garantiert ohne Rahmabschöpfung«. In Mali hatte ich einmal einer Frau die mich um Milch für ihr Baby gebeten hatte, sündhaft teure pasteurisierte Milch mitgebracht, aber sie hatte die Flasche nur ratlos in den Händen gehalten: »ich meinte Milchpulver«, erklärte sie schliesslich verlegen lächelnd, möglichst von dem Weltkonzern, dessen Trockenmilch dafür bekannt war, dass sie so voll mit Chemie war, dass sie Babys umbringen konnte. Und die zum Katerfrühstück am Rathaus normale Milch trinkenden Münchner Millionäre entsorgten dann noch ihre alten Klamotten in Afrika und schluckten ihren mit für den Rest der Welt unbezahlbarer normaler Milch zubereiteten Latte Macchiato schmatzend herunter, sich in dem Bewusstsein suhlend,  doppelt Gutes zu tun, sich selbst und dem Rest der Welt.

»In was für einem Irrenhaus lebe ich eigentlich?«, fragte ich mich, als ich sinnierte, ob ich mir normale Eier leisten kann und eine erotische säuselnde Frauenstimme, untermalt von säuselnden Schalmeienklängen aus dem Lautsprecher tönte:
»kaufen Sie unsere Fair Trade Produkte! Unterstützen Sie mit uns eine bessere Welt, in der den Produzenten gerechte Preise bezahlt werden! Helfen Sie armen Bauern, ein menschenwürdiges Leben führen zu können!«

Ich sah mich um. Die Menschen standen vor den Regalen und packten ihre Einkaufwägen voll. Supermarktangestellte schoben Wägen mit Nachschub durch die Gänge.

»Ja, aber dann ist doch alles andere unfair!«, wollte ich rufen – riss mich aber in letzter Sekunde zusammen aus Angst ins Irrenhaus zu kommen, wie das ja immer der Fall ist, wenn man die Wahrheit sagt.
In London gäbe es wenigstens die speakers corner, in der weltfremde Spinner von vorbeihetzenden Börsenpuppen belächelt sich ereifern könnten:
Fair Trade ist doch die Verifizierung des unfairen Handels! Fair Trade macht klar: alles andere ist unfair! Jeder andere Handel ist unfair!

99% der Waren in diesem Supermarkt stammten aus unfairem Handel. 99% der Produzenten dieser Waren, ganz gleich ob es Bauern, Arbeiter oder Angestellte waren, wurden unfaire Löhne gezahlt. 99% der armen Bauern führten kein menschenwürdiges Leben,
weil Welthandelsmanager mit Hilfe von bis an die Zähne bewaffneten Militärs und Politikersprachrohren hergehen und Bauern in aller Welt Heckler und Koch Maschinenpistolen an die Schläfen halten lassen, damit sie die Preise niedrig machen,
weil diese menschenverachtenden Weltdirigenten mit Kriegsschiffen, Panzern, Kampfflugzeugen und Drohnen Welthandelspreise erpressen, von denen die Bauern weder leben noch sterben können,
weil diese Lenker der Menschheit den Fluss der Waren so dirigieren, dass die Minderheit sich beinahe zu Tode fressen kann und die Mehrheit am Rande des Verhungerns steht.

Und dann kommen satte, von eben jenen Industriellen, Militärs und Politikern abgesicherte Humanisten daher und zahlen für eine von tausenden von Kaffeepaketen
etwas mehr, um das dann »fair trade« nennen zu können.

Warum fordern sie nicht statt dessen Gesetze, dass
– auf jedem mit roher Gewalt erpressten billigen Kaffee »Kriegsgewinnlerangebot« zu stehen hat,
– an jeder Tankstelle in riesengrossen Lettern angeschrieben stehen muss: »damit Sie so billig tanken können, ermorden wir täglich in aller Welt tausende von Menschen!«,
– und auf jedes T-Shirt, das aus afrikanischer Baumwolle gefertigt wurde, gedruckt werden muss:
»für den Spottpreis dieses Hemdes sterben täglich zigtausende von Kindern!!!« –

?

Weil das normale Politik wäre, aber die gibt es hier so wenig wie normale Eier.

Februar 14