Politik

Inhaltsverzeichnis:

  1. Schiessen statt reden. Ein Spiegelbild
  2. Katastrophenalarm

 

 

KATASTROPHENALARM.

Dieses Buch ist ein Phänomen: es steht sich selbst im Weg.

Es ist ein unverzichtbares Standardwerk über »die mutwillige Zerstörung der Einheit von Mensch und Natur« (Untertitel), eine im besten Sinne des Wortes gigantische Fleissarbeit, die wissenschaftlich fundiert und dennoch für Laien verständlich wirklich alle relevanten Aspekte der momentanen Selbstvernichtung der Menschheit eindringlich vor Augen führt, eine grauenvolle Enzyklopädie des real existierenden Horrors, dessen Dimension man sich gar nicht in seiner Gänze bewusst machen darf, will man nicht Gefahr laufen, zum Selbst- und Serienmörder zu werden.

Aber obwohl die so sorgfältig wie präzise zusammengestellten Fakten wahrlich mehr als genug für sich selbst sprechen, müssen in so aufdringlicher wie unnötiger  Weise permanent Karl Marx und Friedrich Engels dafür herhalten, die wahre Qualität der Katastrophe zu belegen. Die Umweltkatastrophe und die Genialität von Marx/Engels sind aber zwei paar Stiefel, die sich gegenseitig nicht nötig haben: traut der Autor etwa selbst den von ihm so hervorragend zusammengestellten Fakten nicht, müssen sie erst von der Marx/Engelschen Autorität bewahrheitet werden? Traut der Autor selbst Marx/Engels nicht, wenn er glaubt, die Umweltkatastrophe dazu benützen zu müssen, Marx/Engels zu bewahrheiten? . Damit wird er nicht nur beiden nicht gerecht, sondern schmälert ihren jeweiligen Eigenwert.

Denn Sätze wie:
– Der Zustand der Verschmutzung, Vergiftung, Erwärmung und Versauerung der Weltmeere ist nach derzeitigem menschlichem Ermessen bereits zu einem beträchtlichen Teil irreversibel. Es würde mindestens einige zehntausend Jahre dauern, bis auf natürlichem Wege der vorindustrielle Zustand wieder erreicht werden könnte.(S. 141)
– Um das Jahr 2005 hinterliessen mehr als drei Milliarden Stadtbewohner jährlich bereits 1,3 Milliarden Tonnen festen Müll, fast das Doppelte wie zehn Jahre zuvor (S. 168). (Heute, zehn Jahre später also mindestens noch mal das Doppelte, wenn nicht mehr: und so weiter)
– Trotz aller Fortschritte der Wissenschaft und Technik haben im 21. Jahrhundert mehr als 1,2 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser. Täglich sterben etwa 10 800 Kinder durch fehlendes oder verunreinigtes Trinkwasser. 80% aller Krankheiten in den Entwicklungsländern sind auf Mangel an sauberem Trinkwasser zurückzuführen.(S.211) (Ich kann das nach zehn Jahren Leben in Mali durch Erfahrung vor Ort bestätigen, halte die Zahlen sogar für viel zu niedrig – was einmal mehr für die Seriosität des Autors spricht: lieber weniger, aber gesichert, als mehr und eventuell angreifbar. Ausserdem gilt auch hier: auch die hier genannetn Zahlen sind mehr als genug, nämlich unerträglich viel zu viel, Ausdruck der unvorstellbaren Barbarei unserer »Zivilisation« – welch Hohn  auf diesen Begriff)
– diese Sätze stehen für sich, sie bedürfen keiner weiteren Bekräftigung ihrer Evidenz.

Der verdienstvollste Fund, das phantastischste Ergebnis der akribischen Arbeit des Autors Stefan Engel ist freilich das aus dem Jahre 1955 stammende Zitat des US-amerikanischen Vordenkers unserer heute ins damals Unvorstellbare gewucherten Wegwerfgesellschaft, Alfred P. Sloan (bezeichnenderweise Chef einer Firma des Kernstücks der Wegwerfproduktion, des Sargnagels der Zivilisation: des Autos – in seinem Falle des Automobilkonzerns General Motors):

Unsere enorm produktive Wirtschaft fordert, dass wir den Konsum zu unserem Lebensinhalt machen, den Kauf und Gebrauch von Waren in Rituale verwandeln, unsere geistige Befriedigung und unser Selbstwertgefühl im Konsum suchen. … In immer schnellerem Tempo müssen wir Dinge konsumieren, verbrennen, abnutzen, ersetzen und wegwerfen.(S. 164/165)

Selten wurde Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit deutlicher ausgesprochen.

Das ist der mörderische Trick, die Todesfalle der globalen, inzwischen zum Naturgesetz erklärten Profitmaximierungsproduktion:

Dem einzelnen Menschen, durch von Medienterror flankierten Produktionsdruck sein Selbstwertgefühl – also das Urmenschlichste – zu rauben, ihn zum burnout erniedrigten Nichts zu machen, das sich selbst nur noch für ein sinnloses Stück Lebendfleisch hält –
und ihm dann als Kompensation den Konsum zu bieten, an vorderster Stelle das Auto, welches ihm Fähigkeiten wie übermenschliche Geschwindigkeit, übermenschliche Kraft, übermenschliches Selbstwertgefühl verleiht, ihm die Illusion gibt, Gott gleich zu sein –
und ihn damit bis zur völligen Umwälzung dieser barbarischen Verhältnisse zur nur noch funktionierenden Ameise macht.

Jedes zweite Baby in den Metropolen spricht als erstes Wort »Auto«; in Afrika ist es noch das Wort »Wasser«, aber auch dort folgt als zweites: »Auto«.

Die Umweltkatastrophe beginnt im Menschen und endet mit dem Menschen, seiner Verwandlung in Ware.

Nirgends wurde Rosa Luxemburgs Tatsachenfeststellung »entweder Sozialismus oder Barbarei« treffender auf den Begriff gebracht.

Vielen Dank, Stefan Engel, für diesen Zitatfund, diese glasklare Definition von »Barbarei«.

Was den »Sozialismus«, die »befreite Gesellschaft«, die »Utopie« oder gar das »Paradies« betrifft – ganz gleich also wie man diesen ältesten Menschheitstraum benennen mag -, bleibt das Buch freilich sein Versprechen, dahin einen Weg zu finden, schuldig.

Ein durchaus besser gemeintes und auch so gewolltes Parteinmodell anzubieten – MLPD anstatt CSUSPDGRÜNE etc – bleibt ein systemimmanentes Stubenhockermodell.

Ein globales Umdenken ist gefragt:
Orientierung am Gebrauchswert, dem Nutzen anstatt am Tauschwert, dem Profit – ist angesagt.
Das steht ausserhalb und oberhalb jeglicher Parteien, Ideologien, Religionen, denn es ist nicht nur nötig, sondern heute – im Gegensatz zur früheren Zeiten materiell, technisch-wissenschaftlich möglich.

»Katastrophenalarm« könnte zu diesem Umdenken beitragen, wenn es sich nicht selbst ein Bein stellte, indem es seine dringenden Inhalte mit sachfremden wie der – völlig unnötigen – Lobpreisung von Karl Marx und Friedrich Engels mischt.

Der Autor weiss das und versucht dem zu begegnen, indem er  auf jeder dritten Seite Satzteile fett hervorhebt – als ob seine Leser Deppen seien. Gelbe Karte, Stefan Engel! Das ist Entmündigung des Lesers und Reproduktion kapitalistischer Werbemethoden: »V-Markt – einfach besser einkaufen«. Das geht nach hinten los!

Dieses Buch ist zu wichtig, um seine Aussagen:
seinen Alarm –
derart abzuschwächen.

Christof Wackernagel
13.2.2015

PS: Hiermit biete ich mich als Lektor für die zweite Auflage an.

 

 

Schiessen statt reden. Ein Spiegelbild.

Zur Mitverantwortung unserer Gesellschaft für die Angriffe auf sie.
Vorbemerkung:

Macht, Verführung und immanente Brutalität von Organisationen wie Al Qaida und seit neuestem dem Islamischen Staat geben den Menschen in den demokratischen Metropolen Rätsel auf: wieso ist der Djhad hipper als facebook? Politiker, Wissenschaftler und Theologen überbieten sich in Erklärungsversuchen und sehen als einzige Antwort weitere Eskalation der Gewalt. Was ist passiert?
Der ubiquitäre Widerspruch

Vor 2000 Jahren kippte ein junger Mann mit Münzen überhäufte Tische in Jerusalem um und beschimpfte deren Besitzer als gottlose Geldhändler. Auch wenn es sich nur um Gewalt gegen Sachen handelte, ist dieser Vorgang vor allem deshalb bemerkenswert, weil die historisch bedeutende Botschaft dieses jungen Mannes war, die Menschen sollten Konflikte durch Dialog lösen und nicht durch Gewalt. Aber angesichts der Wechsler und Wucherer platzte selbst dem Sohn Gottes der Kragen.
2000 Jahre später zündeten einige junge Leute ein Warenhaus in Frankfurt an und klagten deren Betreiber als menschenfeindliche Kapitalisten an. Ebenfalls Gewalt gegen Sachen als Protest gegen einen Krieg, der der Durchsetzung eines globalen Diktats der modernen Wechsler und Wucherer diente. Ebenfalls von Menschen ausgeübt, die vorher mit friedlichen Mitteln menschenunwürdiges Profitdenken angeklagt hatten und von einer friedlichen Welt träumten.
50 Jahre später zerstörten einige junge Männer das World Trade Center und erklärten einem Handelssystem den Krieg, das sie nur noch den »Westen« nannten. Von Gewalt gegen Sachen konnte keine Rede mehr sein, sondern nur von ultimativem Massenmord. Aber es waren ebenfalls Menschen, die sich auf eine Frieden und Toleranz predigende Religion beriefen.

Bei allen Unterschieden verbindet sie eines: sie richteten sich gegen ein Handels- und Güterverteilungssystem, das sie als ungerecht empfanden und das weder im römischen Reich noch in der aufgeklärten Weltgesellschaft des dritten Jahrtausends auch nur ein Jota in Frage gestellt wird.

Jesus Christus wurde bekanntlich gekreuzigt, die RAF verschwand im Kugelhagel oder im Gefängnis und dem Djhad wurde der totale Krieg erklärt.

Demokratie, also das Forum, verschiedene oder gegensätzliche Interessen friedlich zu regeln, und den Anspruch, dieses zu tun, gab es schon lange vor Christus, der ihre Grundgedanken einklagte. Die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland war zwar etwas über zwanzig Jahre nach Diktaturende nur schwach entwickelt, nutzte aber die Chance ihrer Bewährung angesichts einer verzweifelten Infragestellung nicht, sondern setzte den Rechtsstaat ausser Kraft. Heute ist Demokratie weltweit das Mass aller Dinge – und sie hat nur eine Antwort auf gewaltsame Infragestellung: noch mehr Gewalt.

So können sich beide Seiten auf die Gegenseite berufen, wenn sie ihre eigenen hoch offi-ziell erklärten Prinzipien und Ziele ins Gegenteil verkehren, ganz gleich, ob sie religiöser, politischer oder weltanschaulicher Natur sind.

Wie man sich selbst diesen Widerspruch zurechtbiegt und verdrängt, kenne ich aus eige-ner Erfahrung. Antifaschistisch erzogen, Kriegsdienstverweigerer und als Kind der Studentenbewegung der 60er Jahre ein glühender Verfechter einer weltweiten gerechten Verteilung der Güter der Menschheit, war es für mich undenkbar, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Dass ich schliesslich trotzdem tat, hat zwei entscheidende Rechtfertigungsbegründungen:

1. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, weil die Machtinhaber die ungerechten Verhältnis-se mit Gewalt aufrechterhalten und selbst friedliche Proteste mit brutaler Gewalt niedergemacht werden. Dass die staatliche Gewalt sogar nicht davor zurückschreckt, einen friedlich demonstrierenden Studenten zu ermorden, zeigt für wie gefährlich sie dessen Gedanken und Ziele hält. Dafür kann es nur einen Grund geben: dass diese Gedanken und Ziele richtig sind (quod erat demonstrandum).«
2. »Wenn ich gegen meine Überzeugung eine Waffe in der Hand nehme, tue ich das, um diese Überzeugung endlich und endgültig irreversible Realität werden zu lassen: dass nämlich nie wieder ein Mensch eine Waffe in die Hand nehmen muss oder will. Wir führen den letzten Krieg, mit dem eine Welt ohne Krieg herbeigeführt wird: wir üben keine Gewalt, sondern Gegengewalt aus. Deshalb bin ich gezwungen, eine Waffe in die Hand zu nehmen und sie auch mit allen tödlichen Konsequenzen für andere und mich zu benützen: so habe ich dazu nicht nur das Recht, sondern – um meiner Über-zeugung willen! – sogar die Pflicht.«

Daran fühle ich mich erinnert, wenn ich heute das Fotos einer jungen Frau sehe, die, glückseligen Blickes, ihre Heckler und Koch Maschinenpistole in den Armen hält wie ein Baby, nachdem sie von Berlin nach Bagdad aufgebrochen ist.

Daran fühle ich mich auch erinnert, wenn ich 100 Jahre nach Ausbruch des ersten Welt-krieges im Anti-Kriegsdrama »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus das wahre Zitat eines Feldgeistlichen zitiert finde:
»Und man muss hier klar und bestimmt eingestehen: Jesus hat das Gebot: ›Liebet Eure Feinde‹ nur für den Verkehr zwischen den einzelnen Menschen gegeben, nicht aber für das Verhältnis der Völker zueinander. … Es gilt nicht für die Stunde des Gefechtes. … Das Töten ist in diesem Falle keine Sünde, son-dern Dienst am Vaterlande, eine christliche Pflicht, ja, ein Gottesdienst!«

Daran fühle ich mich auch erinnert, wenn der ehemalige Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber, in der FAZ am 6.10.14 unter dem Titel »Du sollst nicht töten – und nicht töten lassen« schreibt:
»Unsere Verantwortung für den Frieden kann im äussersten Notfall den Einsatz von Waffengewalt einschliessen. … Denn ein Ende der Gewalt, bevor sie weitere Opfer fordert, ist der einzige Sinn einer solchen Notmassnahme«.

Dabei bleibt offen, wieviel Opfer diese Notmassnahme fordert: oder sind tote Terroristen keine Opfer?

Und es stellt sich vor allem die Frage, warum das erweiterte 5. Gebot »Du sollst nicht töten lassen« nicht in der Konsequenz bedeutet:
keinerlei Waffen mehr in andere Hände zu geben, also den Rüstungsexport einzustellen?

Statt dessen fordern andere hohe deutsche Geistliche, die den Irak besucht haben, sogar Rüstungslieferungen an die – vor kurzem noch als Terroristen bezeichneten – Kurden.

Und drehen damit die Gewaltspirale höher, die Gewaltspirale, die von Anfang aller Geschichte an auf der gleichen Begründung beruht, woran Wolfgang Huber in seinem Artikel erinnert:
»So fordert Mose die Leviten auf, alle zu töten, die sich dem Bekenntnis zu dem einen Gott verweigern. Sie sind folgsam, das kostet dreitausend Menschen das Leben«.
Obwohl Gott Mose die Tafeln mit dem 5. Gebot gab.
Mit der gleichen Begründung mordeten die Christen halb Südamerika hin, obwohl ihr Gründer das Gegenteil gefordert hatte und heute die Djhadisten, obwohl im Koran das Gegenteil steht.

Die junge Berlinerin mit der Heckler und Koch Maschinenpistole können derartige Erklärungen nicht nur nicht davon abhalten, nach Bagdad aufzubrechen, sondern sie können sie nur darin bestätigen, möglichst möglichst konsequent den wirklichen Frieden, wie sie ihn versteht, herbeizuführen. Entweder es gibt das 5. Gebot, das ja auch für den Islam gilt, oder es gibt Ausnahmen. Und wenn es Ausnahmen gibt:
wer hat dann das Recht und die Legitimation dazu, diese Ausnahmen zu definieren?

Denn was für eine Alternative bietet ihr die getaktete burnout Gesellschaft, die sich für das non plus ultra der Geschichte hält und dabei jeden jungen Menschen, der in diese Welt hineinwächst mit einer nie dagewesenen Ausweglosigkeit konfrontiert: friss Vogel oder stirb, mach mit, häng dich rein, gib alles und du bekommst Audi oder BMW – wenn du versagst, musst du dich mit Aldi und Lidl zufriedengeben. Sonst gibt es nichts und jeder, der sich nicht dazu bekennt, fällt raus oder wenn er dagegen aufmuckt, werden Notmassnahmen ergriffen.

Ernsthaft zur Disposition gestellt wird diese Gesellschaft nicht.

Ich verstehe die junge Berlinerin auf dem Weg nach Bagdad. Ich denke genauso wie sie, habe es aber zum Glück bereits hinter mir, zu versuchen, mit Gewalt eine Änderung herbeizuführen. Durch diese Erfahrung weiss ich heute allerdings eines:
»es geht nicht mit Gewalt« heisst: »es geht nicht mit Gewalt«.
Auch nicht mit ökonomischer, psychischer oder struktureller, staatlich oder religiös begründeter. Nicht einmal mit »friedlicher Gewalt« – sowieso eine contradictio in adjecto.

Als Palästinenser 1972 bei den olympischen Spielen in München israelische Sportler zu Geiseln nahmen, bot sich der damalige Innenminister als Austauschgeisel an. Selbst wenn man unterstellt, dass er davon ausgehen konnte, dass die Palästinenser das Angebot nicht annehmen würden, zeigt das auch nur als Geste die einzige Perspektive.

Warum argumentiert Bischof Huber heute noch wie der Feldgeistliche anno 1914und sagt: »für sich selbst kann man auf jeglichen Schutz vor Gewalt verzichten, man kann jedoch nicht mit einer solchen Begründung«, nämlich die von Jesus geforderte »persönliche Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen … anderen jeglichen Schutz vorenthalten«.

Warum zeigt er dann nicht diese persönliche Bereitschaft, fährt in den Irak und spricht mit dem obersten IS Kalifen?

Der würde sich das nicht entgehen lassen. Und Bischof Huber nicht umbringen. Und die Berlinerin auf dem Weg nach Bagdad würde ihre Entscheidung zumindest solange vertagen, bis ein Ergebnis eines solchen Gespräches deutlich würde.

Immerhin hat der Papst seine Bereitschaft zu erkennen gegeben, mit seinem Kollegen an der Spitze des IS ins Gespräch zu kommen. Als die Gruppe »Anzardin« (in etwa: die Verwirklicher des wahren Glaubens) den Norden Malis überfiel, wollten die friedlichen Muslimführer unbedingt mit ihnen darüber diskutieren, was denn wirklich der »wahre Glaube« sei, Gott sei Gott und gerade darin, dass es nur einen gebe, seien sich doch alle einig.
Dazu kam es nicht und als die vergewaltigenden, Zungen, Hände und Füsse abhackenden Truppen immer näher auf Malis Hauptstadt Bamako zukamen, in der ich mit meinem eben geborenen Sohn lebte, sah ich mich gezwungen, im deutschen Fernsehen um Hilfe von der Bundeswehr zu bitten:

Jedes Wort, das nicht gesprochen wird, erzeugt 1000 tödliche Kugeln.

Warum also haben nicht Obama, Putin, Merkel nicht längst ein Gipfeltreffen angeboten anstatt über immer grössere Vergeltungsschläge zu reden?
Die unheilige Allianz

Auf dem Höhepunkt der europaweiten Fahndung nach der RAF im Jahre 1977 befand ich mich eines Tages mit einem Kollegen in einer europäischen Hauptstadt auf dem Weg zum Bahnhof, um deutsche Zeitungen zu kaufen. Verständnislos den Kopf schüttelnd sagte er: »Das BKA ist wirklich dümmer als die Polizei erlaubt. Die Herrschaften wissen doch, dass wir ohne Zeitungen nicht leben können! Sie müssten einfach nur die paar Stellen, an denen es deutsche Zeitungen gibt, beobachten und könnten uns alle problemlos abgreifen.«

Tatsächlich hätte eine Gruppe von zwanzig Menschen niemals eine Republik von sechzig Millionen Menschen derart in Aufruhr versetzen können, wenn nicht die Medien dazu ihren ausschlaggebenden Beitrag geleistet hätten: »ein Ereignis ist nur dann ein Ereignis, wenn darüber berichtet wird« – das ist heute ein politisches wie gesellschaftliches, kulturelles Grundgesetz.
Wäre über die Ermordung Hanns Martin Schleyers so nüchtern wie von einem Naturereignis betroffen berichtet worden wie über die Ermordung von dreizehn Besuchern des Oktoberfestes oder von zehn ausländischen Mitbürgern durch die NSU – das Kalkül der RAF wäre nicht aufgegangen.

Erst die mediale Hysterie hat aus der RAF die RAF gemacht.

Man sollte diese Tatsache ganz unabhängig davon sehen, welche vermeintlichen oder echten Interesse hinter der einen oder anderen Seite standen.

Ein zentrales Prinzip von kleinen Gruppen, die mit gewaltsamen Aktionen in den politischen Prozess eingreifen wollen ist die »Selbstvermittlung der Aktion«. Ausgehend von der Tatsache, dass der Medienaufschrei die Ziele und Inhalte der Aktion umkehren oder verschweigen wird, ist es oberstes Gebot, dass das Objekt der Aktion selbst ihren Inhalt offen legt. Man kann sogar davon ausgehen, dass die Dimension der medialen Verleugung der Inhalte diese umgekehrt proportional deutlich macht.
So las ich vor kurzem über die Geschichte der RAF in einer Schularbeit der 17-jährigen Tochter einer Freundin, dass die Mitglieder der RAF »den Kapitalismus, den Vietnamkrieg und die Zustände in der 3ten Welt verabscheuten« und deshalb »Bombenanschläge auf US- und staatliche Einrichtungen verübten«.
Immer wieder stosse ich auf »Bewunderung« von jungen Menschen, die in Bezug auf die Ermordung Hanns Martin Schleyers sagen: »Ihr habt wenigstens noch was gegen die alten Nazis getan« und höre staunend Punk-Songtexte wie: »Wo ist die RAF wenn man sie braucht?« oder »Buback, Ponto, Schleyer, die Welt wird immer freier«.
Auch wenn das Ziel der RAF einer vom Profitdiktat befreiten friedlichen Menschheit nicht erreicht wurde – dank der Medien sind ihre Inhalte noch bei unseren Enkeln präsent.

Betrachtet man unter dem Gesichtspunkt der »Selbstvermittlung der Aktion« den inzwischen ein Jahrzehnt alten Anschlag auf das World Trade ergibt sich folgendes Bild:

Wenn das Welt Handels Zentrum zerstört wird, wird der Welthandel als solcher damit angeklagt, seine Struktur, seine Ungerechtigkeit, seine indirekten weltweit massenhaft tödlichen Folgen, sein sich als Naturgesetz darstellendes Diktat.
Ganz gleich, ob man es »Imperialismus«, nennt, »Kapitalismus«, »Profitdiktat« oder »Habgier der Reichen, die damit immer reicher werden, die Armen aber immer ärmer«, ganz gleich, ob man diese Meinung teilt oder nicht, eines kann keiner leugnen:
dass Milliarden von Menschen auf dieser Welt, nämlich alle, die von diesem Welthandel betroffen sind und am Existenzminumum dahinsiechen, deren Kinder an verseuchtem Wasser und Krankheiten sterben, weil die Eltern die notwendigen Medikamente nicht bezahlen können, wie ich es jahrelang in Mali miterlebte –
sie alle teilen diese Meinung.
Sie alle wurden nach dem Anschlag auf allen Kanälen der ganzen Welt mit der Empörung darüber »bombardiert« und selbst wenn sie die Empörung teilten, die Gewalt daran verabscheuten, bleibt in ihren Köpfen, bewusst oder unbewusst die Frage, wieso die Empörung über die Ermordung der 4000 Welthändler nicht einhergeht mit einer durch dieses Zeichen aufbrechenden Empörung über 4 000 000 Opfer des Welthandels. Bleibt scheunentorweit offen die Frage, wieso anlässlich einer derart grauenhaften Aktion nicht deren Motive wenigstens nachvollzogen und vielleicht auch darüber nachgedacht wird, ob vielleicht etwas an den Ursachen geändert werden könnte oder gar sollte.

Hier noch einmal der wahre Zitate Überbringer Karl Kraus in den »letzten Tagen der Menschheit«, der den deutschen Gesandten einer internationalen Journalistenkonferenz im Jahre 1917 sprechen lässt:

»Der Krieg hat offenbart, welche Macht der moderne Zeitungsschreiber in der Hand hält. Man denke sich die Zeitung weg in diesem internationalen Aufruhr der Gemüter; wäre ohne sie der Krieg überhaupt möglich geworden, möglich auch in seiner Durchführung?
Es ist eine Kunst, eine hohe Kunst, die wir ausüben, und das Instrument, auf dem wir spielen, ist das edelste, das sich denken lässt, es ist die Seele der Völker.«
es: wie das Unbewusste das Bewusstsein manipuliert
Glaube

In meiner Zeit als Sympathisant der RAF sprach ich einmal in Paris mit einer wunder-schönen Intellektuellen und schwärmte wortreich und wortgewandt vor ihr vom Traum der befreiten Gesellschaft, dem Unterschied zwischen Freiheit und Befreiung und der Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes zum Zwecke der Herbeiführung derselben. Nach anfänglich durchaus vielversprechenden Blicken hörte sie zunehmen unkonzen-trierter zu, schlug schliesslich die Hände über dem Kopf zusammen und rief in meinen Redefluss hinein: »Du bist ja schlimmer als jeder Missionar!« Tief getroffen gab ich weitere Werbeversuche auf und archivierte die Erfahrung nach dem Motto: Schnaps ist Schnaps und Politik ist Politik. Mehr als ein Jahrzehnt später, nach RAF Mitgliedschaft, Gefängnis, dem gescheiterten Versuch, den bewaffneten Kampf in der BRD mit Marxens »Kapital«, Band I zu erklären und wieder als TV-Serienkomödiant tätig, kam mir im Lauf der unzähligen Verarbeitungs- und Vermittlungsdiskussionen wie ein Axthieb, der den Baum meiner festen Überzeugung niederschlug, die Erkenntnis:
›Ja, es war Glaube‹.
Das, was ich für eine marxistisch-leninistisch fundierte historische Gesetzmässigkeit gehalten hatte – war in Wahrheit Glaube. Ganz normaler, blinder Glaube, der mir den Blick auf den ersten logischen Widerspruch verstellte: wenn die Befreiung der Menschheit eh eine historische Gesetzmässigkeit war, wieso musste ich dann mit Gewalt nachhelfen?

Die Soldatinnen und Soldaten des Islamischen Staates setzen ihre Sache schlauer um.

Wo wir einem Glauben anhingen, den wir für Politik hielten, die erklärt werden musste, beginnen sie gleich mit dem Glauben und können somit Politik machen, die sie nicht er-klären müssen.
Sie bauen einen Staat auf mit Administration, Gesundheits- und Erziehungsinstitutionen, in strenger, aber klarer Ordnung. Sie kritisieren nicht nur, sie schaffen die (scheinbare) Alternative. Alles ist geregelt, da gibt es nichts zu diskutieren.

Während meines zehn Jahre dauernden Lebens in dem von einer 70%igen islamischen Mehrheit bewohnten Land Mali führte ich viele Gespräche mit Musliminnen und Muslimen, die ich als überaus tolerant und offen erfuhr. In den ganzen zehn Jahren wurde ich nur drei oder vier Mal aufgefordert, doch zum Islam überzutreten. So akzeptierten sie zum Beispiel meine an sich nur gymnastische Yoga-Übung »Morgengruss« als Gebet, was ausreichte um als Mitglied ihrer Gesellschaft akzeptiert zu werden.
Aber wenn ich sagte: »Ich rede jeden Tag mit Allah«, erntete ich entsetzte Reaktionen. »Mit Allah kann man nicht reden«, er hat mit dem Koran gesagt, was gesagt werden musste und hat die gesamte folgende Geschichte der Menschheit bis ins letzte Detail vorbestimmt – seitdem schläft er, deshalb kann und braucht man nicht mit ihm zu reden.
Auch wenn ich sagte: »wir sind alle Kinder Allahs« erntete ich entsetzten Widerspruch: Nur Muslime sind Kinder Allahs.

Aber genauso entsetzt reagierten sie, als die Gruppe Anzardin schwerbewaffnet den Norden Malis überfiel, Andersgläubige tötete und sich dabei auf den Propheten Mohammed berief, der vorgelebt habe, was unter dem Satz, dass nur Muslime Kinder Allahs seien, zu verstehen sei: alle umzubringen, die keine Muslime sind (wie einst Mose sagte). Wütend und beschämt distanzierten sie sich von diesen Verrätern des Islam.
Verführung
Individuell:

Schon am ersten Abend in der Illegalität irritierte mich das Verhalten eines meiner neuen Mitstreiter. Während wir zusammensassen und redeten und dabei Kleinigkeiten zu uns nahmen, sass er lässig an ein Sitzkissen gelehnt auf dem Boden, warf sich mit der einen Hand Nüsse in den Mund, die er gekonnt auffing, und liess in der anderen seine Pistole um den Zeigefinger kreisen – so, wie ich es aus Western Filmen kannte. So etwas hätte ich bei pubertierenden Jugendlichen erwartet, aber nicht bei der Rote Armee Fraktion. Es dauerte lange, bis ich Neuling wagte, das anzusprechen: ob das nicht gefährlich sei, fragte ich. »Ist doch nicht geladen«, kam es milden Spottes schnoddrig zurück. Einer der anwesenden Frauen gefiel das ebenfalls nicht und es kam zum Konflikt über die Frage, ob ein derartiger Umgang mit Waffen einer revolutionären Organisation angemessen sei oder nicht, was verneint wurde.

Kurz darauf bekam ich Schiessunterricht, in einem Fussgängertunnel einer Autobahnunterführung, wo weit und breit kein Mensch zu erwarten war. Nicht nur der Hall faszinierte – ich musste mir schnell eingestehen, dass dieses Gefühl unangreifbar zu sein – beziehungsweise: wer es wagen sollte, mich anzugreifen, sein blaues Wunder erleben würde – phantastisch war. »Geil« würden sie jungen Leute heute sagen.
Kurz darauf bekam ich eine kleine tschechische Maschinenpistole, sehr handlich und ge-rade nur so gross, dass ich sie locker in den Hosenbund stecken konnte und sie trotzdem vom Jackett überdeckt wurde.
So ging es sich wie auf einem sanft gefederten roten Teppich – verbunden mit dem Bewusstsein für eine gute Sache zu kämpfen, siehe oben, konnte das geradezu high machen.

So schnell kann sich etwas unbemerkt in sein Gegenteil verwandeln.

Und muss es: denn die Waffe zu nehmen, aber die Skrupel zu behalten, wäre selbstmörderisch. Wer a sagt, muss auch b sagen. Man kann gegen Waffen sein, so viel man will, in dem Moment, in dem man sie in der Hand hat, üben sie selbst Macht aus, magische Macht, und es ist nur sehr, sehr mühsam möglich, sich dem zu erwehren und wenn man sich das nicht klarmacht, nicht zu verfallen.
Verführung kollektiv:

Nachdem ich zehn Jahre lang ausserhalb des europäisch-amerikanischen Kulturraumes gelebt hatte, bekam ich einen Schock, als ich wieder mit der hierzulande Standard gewordenen Kultur- und vor allem Filmindustrie konfrontiert wurde.
Von Tarantino-Filmen bis »Tatort«: eine atemberaubende Eskalation der Gewaltdarstellung. 1:1 mit schönen Bildern ästhetisch für den Konsum aufbereitet und in Zeitlupe bildungsbürgerlich aufgemotzt. Gewaltdarstellung, musste ich fassungslos feststellen, ist salonfähig geworden. Bei gleichzeitiger Perfektionierung einerseits von Anti-Gewalt Bekundungen von Politik und Medien, andererseits immer brutalerer Kriegführungen in aller Welt und einem boomenden Rüstungsexport.

Mit wem auch immer ich darüber sprach: ich stiess nur auf achselzuckende Resignation. »Kann man nichts daran ändern«, »merkt doch eh keiner mehr« oder die beliebteste Ausrede der TV-Redakteure: »die Leute wollen das so«. Permanente Gewaltdarstellung erzeugt Abstumpfung.

Der Mensch ist aber ein nachäffendes Wesen.

Jedes Kind lernt durch Nachahmung. Was sollen von Stars vorgelegte Modetrends ande-res bewirken. Die gesamte Werbung setzt darauf. Karaoke, Kopien von Sex Pistols über Abba bis zu den Beatles.

Warum ausgerechnet Gewaltdarstellung ausgerechnet in dem heutzutage die Kultur dominierenden Medium Film nicht zur Nachahmung führen soll, konnte mir bisher niemand erklären.

Und wenn dann angesichts von Amok laufenden jungen Menschen erst in den USA und inzwischen auch bei uns immer noch nicht darüber nachgedacht wird, ob das vielleicht daran liegen könnte, dass dieses Verhalten diesen jungen Menschen tagtäglich auf allen Kanälen vorgemacht wird, geschweige denn darüber, dass das ein Aufschrei gegen die absolute, völlige, totale Perspektivlosigkeit unserer Gesellschaft sein könnte, dann kann ich auch niemandem mehr etwas erklären.

Ich kann allerdings immer besser nachvollziehen, warum die junge Berlinerin sich auf den Weg nach Bagdad zum IS macht – und zwar in jeder Hinsicht:
sie kann sein wie all diesen jungen schönen Frauen aus inzwischen jedem zweiten US-Blockbuster, die mit einer Maschinenpistole in der Hand vor einem rauchenden Trümmerfeld stehen und entschlossen seligen Blickes die Welt retten oder die tollen Kommissarinnen, ohne die kein deutscher TV Krimi mehr aus kommt, die mit gezücktem Baller-mann all das Böse in dieser Welt bekämpfen;
sie kann selbst und höchstpersönlich im Andy Warholschen Sinne ein 15-Minuten Star werden;
und sie kann damit, zu allem Überfluss, wohlig eingebunden in eine entschlossene und solidarische, klar und fraglos strukturierte Gemeinschaft, ihrem Leben doch noch einen Sinn geben. Dafür kann sie auch in Kauf nehmen, dass dieses Leben nicht mehr lange dauert. Und das gilt genauso für ihre männlichen Kollegen.
Die gesellschaftliche Verdrängung

Wie alle meine Generationgenossen erfuhr ich in der Schule nichts über Krieg und Faschismus. Dass unser Griechischlehrer zitterte, lag nicht an Parkinson, sondern weil er einen Tatterich hatte: er sei unter einem Panzer gelegen, wurde unter uns Schülern hinter vorgehaltener Hand weitergeben, wie alles, was die Nazizeit betraf. Die Befreiung kam durch die Studenten Ende der 60er Jahre, die Aufklärung, Verarbeitung und Schuldbekenntnisse einforderten – und dafür von der Polizei mit Wasserwerfern zurückgedrängt, verprügelt oder sogar umgebracht wurden.

Man muss kein Freudianer sein, um davon ausgehen zu können, dass Verdrängung Wiederholung erzwingt. So war es geradezu folgerichtig, dass mit dem Scheitern der Studentenbewegung bewaffnete Gruppen entstanden und die fehlende Verarbeitung einklagten, aber erst recht gewaltsam zurückgeschlagen wurden, bis sie am Ende 1977 das lebende Symbol der »Kontinuität des Faschismus« ermordeten und dazu sagten: »RAF hat die Entnazifizierung von Hanns Martin Schleyer nachgeholt«.

Über diese Inhalte zu reden wurde als »Rechtfertigung« gebrandmarkt, die tief in die Zeitgeschichte reichenden Zusammenhänge weiter verdrängt, und so war es ebenso geradezu folgerichtig, dass mit dem Abklingen der RAF manche sogenannte »Anti-Imperialisten« übergangslos zu Djhadisten wurden.

Natürlich erschwert und behindert das Mittel Gewalt die Bereitschaft, über die Motive der Gewaltanwendung nachzudenken.
Umso mehr erforderte es grosse und grossartige Ein- und Weitsicht der Angegriffenen, zu beweisen, dass die Vorwürfe gegen sie eben nicht stimmten, indem sie auf sie eingingen und gegebenenfalls etwas an den kritisierten Verhältnissen änderten.

Soweit es sich um vergangenes Fehlverhalten handelte, kann man sich zur Not noch entschuldigen, wie es Bundespräsident Weizsäcker getan hatte.

Soweit es sich allerdings um ein Welthandelssystem handelt, dessen Entstehung bis in die Anfänge der Zivilisation zurück reicht und das als »der Natur des Menschen« entsprechend gehandelt wird, also geradezu einem Naturgesetz gleichgestellt wird und damit genauso undiskutierbar daherkommt wie der Glaube an Allah:
bekommen wir alle zusammen ein Problem.
Dann steht sich schwarz und weiss spiegelbildlich gegenüber. Jede Seite ist weiss und hält die andere für schwarz. Dann kann es nur eine nicht enden wollende Spirale der Eskalation der Gewalt geben: Dann beginnt Gewalt in Brutalität über zu gehen.

Solange Gewalt noch ein Mittel ist, auf Inhalte aufmerksam zu machen, also – so weit man noch davon reden kann – rational bleibt, versucht sie, so wenig Gewalt wie möglich anzuwenden. So war es die Grundidee von Guerillataktik, wie sie aus Südamerika in Europa übernommen wurde, mit dem geringstmöglichen Schaden grösstmögliche Wirkung zu erzielen. Die RAF schoss Schleyers Fahrer in den Unterschenkel – dass er trotzdem starb, zeigte das Dilemma des Mittels und wurde von der Gruppe öffentlich bedauert. Der Richter in meinen Prozess erwiderte auf meine Beteuerung, dass ich den Polizisten, auf den ich geschossen hatte, nicht hatte töten wollen: »Aber Sie haben das Risiko in Kauf genommen«. Das Glück, dass mein Gegner nur leicht verletzt wurde, erleichterte es mir später, die Unhaltbarkeit meines Handelns einzusehen. Das hatte die Voraussetzung, darüber zu reden und nachzudenken.

Wenn aber Gewalt nur noch dazu dient, den Gegner zu vernichten oder gar zu »bestrafen«, wenn Gewalt nur noch gegen Gewalt steht, kann sie nur immer mehr eskalieren und schlägt aufgrund ihrer völligen Aussichtslosigkeit und damit offen werdenden Sinnlosigkeit in Brutalität um. Letztlich drückt das aus, dass die, die quälen und foltern gar nicht an ihr Ziel glauben. Das gilt freilich für CIA-Folterer genauso wie für IS-Vergewaltiger.
Nachbemerkung:

Der legendäre BKA-Chef Horst Herold fasste die Quintessenz seiner Erfahrungen mit den Worten zusammen: »wenn man den Terrorismus bekämpfen will, muss man seine Ursache bekämpfen«. Selbst wenn er damit nicht die Kritik an der damals verfassungs-rechtlich verbotenen deutschen Beteiligung am Vietnamkrieg im Besonderen oder am ungerechten Welthandelssystem im Allgemeinen meinte, wäre das die Konsequenz gewesen. Selbst er wurde nicht gehört und endete in derselben Isolation wie die Gefangenen aus der RAF.

Aber es geht auch anders.

Als in Holland im Jahr 1977 sozial unterprivilegierte Einwanderer der ehemaligen holländischen Kolonie Suriname Intercity Züge der holländischen stattlichen Eisenbahn stürmten, hunderte von Menschen als Geiseln nahmen, sehr viele töteten und tagelanger Notstand ausbrach, reagierten die holländischen Verantwortlichen anders als im Nachbarland Deutschland. Nachdem sie die Geiselnahme beendet hatten, behandelten sie die Geiselnehmer nicht als »normale Verbrecher« und sprachen ihnen jegliche politische Motivation ab, wie es in Deutschland von Politik, Justiz und Medien getan wurde, sondern verbrachten sie in Sondergefängnisse, wo sie mit Politikern, Sozialarbeitern und Psychologen sprachen. Dieser Dialog führte zu einer völlig neuen Immigrationspolitik, Integrations- und Arbeitsprogrammen und kultureller Autonomie der in Holland lebenden Surinamer. Nie wieder kam es in Holland zu weiteren derartigen Aktionen.

Ähnliches – wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen – erlebte ich in Mali, nachdem ein psychopathischer Putschist den demokratisch gewählten Präsidenten kurz vor Ablauf seiner Amtszeit verjagte, damit eines der wenigen wirklich demokratischen Länder Afrikas in seine bis heute nicht überwundene tiefste Krise stürzte und den Djhadisten Tür und Tor öffnete. Selbst ich plädierte damals für den sofortigen Einmarsch der vereinigten West-afrikanischen Streitkräfte der CEDEAO, aber die Malier sagten: »Nein. Wir haben hier eine Kultur des Dialogs, wir reden mit dem Mann«. So konnte ich ihn täglich im Staatsfernsehen heiser und fuchtelnd Forderungen nach gerechten Reispreisen hören, was seine Anhängerschaft unter den Unterprivilegierten erhöhte, bis deutlich wurde, dass er und seine Kumpane nur Reiche ausplünderten um selber reich zu werden und seine Anhänger von ihm abfielen. Inzwischen ist ein neuer Präsident gewählt und in diesen Tagen beginnt der Prozess gegen ihn.

Nur durch Dialog kommt raus, was richtig oder falsch ist.

Zum Abschluss ein persönliches Beispiel dafür.

Der Leiter der holländischen Polizeieinheit, die mich gefangen genommen hatte, setzte sich, obwohl er selbst verletzt wurde, von Anfang an mit meinen, also den Motiven unserer Gruppe auseinander, diskutierte sie mit seinen Kindern, suchte den Kontakt zu meinen Anwälten. Nachdem er erfahren hatte, dass ich mich vom Mittel der Gewalt getrennt hatte ohne von der Kritik an den ungerechten Verhältnissen abzulassen, schrieb er an das für mich zuständige Oberlandesgericht: »ein Mensch, der aus idealistischen Gründen das Gesetz gebrochen hat, ist, wenn er nicht mehr an diese Ideale glaubt, harmloser als jeder Eierdieb. Jeder weitere Tag Gefängnis erzeugt nur Zynismus und Resignation« und bat um meine vorzeitige Freilassung.
Als ich Jahre danach eine bis heute noch nicht realisierte Friedenskarawane durch Afrika initiierte, die endlich den »Dialog der Kulturen« ermöglichen sollte, dessen Notwendigkeit als einzige Alternative heute bitterer denn je offensichtlich ist, schrieb er mir:

»Ich bin stolz auf Dich, mein Junge. Jetzt machst Du endlich das, was Du mit der RAF erreichen wolltest, mit den richtigen Mitteln«.

Es geht auch anders.

November 2014