DIE ZEIT Nr. 41 5. Oktober 1984

Protokolle über das Bewußtsein einer ganzen Generation

Zeichen dieser Zeit

Christof Wackemagels Debüt als Erzähler: „Nadja" / Von W. Martin Lüdke


Christof Wackernagel:
„Nadja", Erzählungen und Fragmente; Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Basel/Frankfurt, 1984;
141 S., 18,DM.

 

 

 

Eine ShortStory. Eine der letzten Geschichten dieses Bändchens. Knapp, präzise, pointiert. Ein größeres Geschärt, um das es da geht. Riskant auch, ein Haufen Geld steht auf dem Spiel, und mehr als das. Der Erzähler springt mitten hinein in die Geschichte. Er trifft den Tonfall der Akteure, skizziert, fast beiläufig, die Atmosphäre, das Klima von Unsicherheit und Angst, die coole Großmäuligkeit, hinter der die Permanenz einer Bedrohung sichtbar wird.
„Das ist über ein Kilo', sagte der eine. Sie lachte. ,Nach dem Bust letzte Woche ist das das Doppelte wert', sagte er. ,Nach dem Bust letzte Woche', wiederholte sie langsam und ernst. ,Was willst du damit sagen?', fragte der andere und sprang auf. Er ging zum Fenster und schaute mißtrauisch hinunter. ,Ich mag es nicht, wenn du deine Paranoia so offen heraushängen läßt', sagte sie und zog ihre Beine an . . ." Die Handlung, es geht hier um Rauschgift, wird durch die Dialoge vorangetrieben. Die Spannung wird geschickt gesteigen, bis hin zu der überraschenden Pointe (die ich hier natürlich nicht verraten werde).
Wackernagels „Lovely Rita" wäre also eine ordentlich, vielleicht ein wenig biedere (weil eben handlungsorientierte) Kurzgeschichte, gut, für einen Debütanten sogar erstaunlich gut erzählt; knapp, präzise, pointiert; solides Handwerk immerhin. Aber diese Geschichte ist mehr, wird mehr, im Zusammenhang dieses Buches, dem (wohlgemerkt) ersten Buch von Christof Wackernagel: „Nadja. Erzählungen und Fragmente." Geschichten also, Notizen, Skizzen, manches noch etwas roh und unfertig, was womöglich mehr den Bedingungen, unter denen diese Texte entstanden sind, anzulasten ist, weniger dem Autor. Im Ganzen gesehen: ein bemerkenswertes Debüt.
Der Titel, kein Zufall, ist Programm. Wer Andre Bretons „Nadja", eines der Hauptwerke des französischen Surrealismus, gelesen hat, wird die Beziehung sofort erkennen. Und wer Breton nicht kennt, wird es dennoch, beim Lesen dieser Erzählungen, langsam erst, dann mehr und mehr spüren: den surrealistischen Untergrund, der die Erzählungen ebenso wie die Erzählweise bestimmt: das Wirklich/Unwirkliche, das Traumhafte, das freilich hier meist ins Alptraumhafte umschlägt, die parataktische Bewegung, diese lose Aneinanderreihung von Episoden, die von keiner Notwendigkeit (es sei denn der des Zufalls) zusammengehalten werden und, vor allem, der plötzliche Schrecken.
Erst in diesem Zusammenhang läßt sich die wirkliehe Pointe der „Lovely Rita" erkennen: eine reale Bedrohung wird inszeniert, doch durch die Inszenierung wird der Realitätsgehalt nicht erwa vermindert, sondern gesteigert. Nur wird hier zugleich etwas von der Differenz sichtbar. „Nadja", die Titelgeschichte, darf wohl als Hommage an Breton verstanden werden. Die Gestalt dieser Frau, dieser Allegorie des Zufalls, wird (ab)gelöst von den Pariser Boulevards und in die (eher) triste Landschaft gegenwärtiger Wohngemeinschaften versetzt. Die Magie ohnehin, auch jede Emphase ist zurückgenommen: „Unter der Tür sah sie mich noch einmal an ihr Blick wieder fremd und verloren. Als sei alles vergessen." Von der Hoffnung, mit einem ästhetischen Kraftakt die Grenze zwischen Literatur und Leben zu überspringen, ist nicht viel übriggeblieben. „Die Schönheit wird ein Beben sein, oder sie wird nicht sein" schrieb Breton in seiner „Nadja". Das „Surreale", das einst auch bei Breton einen Raum von Freiheit eröffnen sollte, ist von Wackernagel wieder eingemeindet, in jenen Zwangszusammenhang integriert, der die ästhetischen und politischen Versuche des Auf und Ausbruchs selbst erst provozierte. Realität erscheint bei Wackernagel als eine Verstrickung von Zeichen, die allesamt und jedes für sich nichts Gutes mehr verheißen. Der Zufall, der einst als Bedingung des Glücks gedacht wurde, wird hier, in vielen dieser Geschichten, zur Bedrohung, zum Verhängnis.

Berichte aus der Szene
Doch lassen wir die Kirche im Dorf. Wackernagel spielt durchaus mit surrealistischen Motiven, aber ebenso spielt ihm das Surreale dieser Realität einfach mit. „Wütend sprang ich auf und rüttelte an dem knorrigen Baum neben mir. Aber es machte mich nur noch wütender (...). 0. k., o. k, dachte ich und ließ von dem Baum ab, gut, wir werden ja sehen. (...) Da wurschteln sie blind und taub vor sich hin, ohne zu wissen, was sie tun,. während die anderen, die wenigen, die Herrschenden, mit tödlicher Genauigkeit, aber genauso blind und taub, das Ende vorbereiten, wie die zweite Natur. Ich könnte platzen, dachte ich, ich will raus aus dem Kreislauf." ...
Die Erfahrungsberichte aus der Szene, der ganze Mief, der aus der Beziehungskiste zum Himmel stinkt, sind keineswegs nur „rausgekotzt", sondern erzählerisch verarbeitet. Darunter die schöne Geschichte „Sonntag": „Es war eklig, in solche einem Zimmer aufzuwachen. Ernüchternd. Er schloß sofort wieder die Augen, um nicht so brutal mit der Realität konfrontiert zu werden, aber es nützte nichts, er war unwiderruflich hellwach. Als er dann auch noch mit einem nur halb geöffneten Auge zur Uhr schielte, war es ihm endgültig klar. Viertel vor acht erst; die anderen pennen unter Garantie mindestens bis elf, dachte er resignierend und fragte sich, was er mit dieser Erkenntnis anfangen sollte. Ruckartig öffneten sich seine Augen, und er richtete seinen Oberkörper auf. Standhaft der Realität ins Auge blicken, dachte er lustlos." Die ganze Wohnung ein einziger Dreckstall, ein einziges Durcheinander, und nun, nachdem der große Frust erst einmal verflogen ist, macht sich das „HBMännchen" daran, Ordnung zu schaffen, erst lustlos, dann mehr und mehr mit wahrer Begeisterung. Das ist salopp und treffsicher erzählt und vor allem, darauf kommt es ja bei einer solchen Geschichte an, trifft Wackernagel die Zwischentöne.
Wackernagel beschreibt, so sensibel wie obsessiv, die Zeichen dieser Zeit, den Zwangszusammenhang, der kein „Außerhalb" mehr zuläßt, und sich selbst in den Versuchen, ihn aufzusprengen, nur noch einmal reproduziert. Wackemagel will keine Erklärungen liefern, sondern erzählen. Er will nicht deuten, sondern zeigen. In diesen Geschichten bildet sich ein Bewußtsem ab, das, gewiß mühsam und schmerzhaft, lernen mußte, auch den einleuchtenden Erklärungen zu mißtrauen.
Deshalb dokumentiert sich hier auch eine politische Erfahrung. Fast alle diese Geschichten und Erzählungen, die Skizzen und Notizen ließen sich, zur Not, auch als eine Art autobiographischer Dokumentation interpretieren: zum Teil als Fluchtgeschichten oder als die Beschreibung irgendwelcher konspirativer Treffen, wobei Anlaß und Zweck dieser Zusammenkünfte stets im dunkeln bleibt, alle Aufmerksamkeit dem Ort, den Umständen gilt, einem Museum zum Beispiel und dem Verhalten der harmlosen Kunstliebhaber, einer Kirche und einem noch harmloseren Organisten, der sich verzweifelt und vergeblich und deshalb immer aufs neue mit einer einzigen Stelle abmüht und auf diese enervierende Weise zum Sinnbild protestantischen Gottvertrauens erhoben wird. Auch deshalb sind Wackernagels Erzählungen unserem Bundesinnenminister zu empfehlen. Hier kann man nämlich lernen, wie Beobachtung und Wahrnehmung, material reflektiert, in Erfahrung überführt wird.
Christof Wackernagel sitzt nämlich seit knapp sieben Jahren im Gefängnis.
...
Aber, um bei dem Bundesinnenminister keine falschen Erwartungen zu wecken, Wackernagel beschreibt nicht die Aktivitäten der RAF und gleich gar nicht das abenteuerliche Leben im „bewaffneten Kampf, er beschreibt Erfahrungen, nicht zuletzt aus jener Zeit. Und wenn es denn Fluchtgeschichten sein sollten, dann nur wegen des surrealen Grundzugs, der sie bestimmt. Wakkemagel beschreibt nicht sein Leben im Untergrund, sondern die Intensivierung seiner Wahrnehmung, er beschreibt keine Verfolgungsjagden, sondern schärfere Beobachtung, er beschreibt (erst recht) keine Schießerei, sondern die Plötzlichkeit des alltäglichen Schreckens, die Irritation des Gewöhnlichen, die Logik des Zufalls. Ihm genügt, zum Bespiel, eine kleine Szene an einer Straßenbahnhaltestelle. Leute warten. Ein Mädchen, das schwarzfahren will, mustert die Wartenden. „Endlich kam die Straßenbahn. Sie stieg extra als letzte ein, um das Verhalten des Mannes im Lodenmantel beobachten zu können. Bevor die Tür zu war, würde er zwar nichts machen, aber er schnappte sich gleich einen der letzten Sitzplätze, und das sprach nicht gerade für den Kontrolleur. Sie drehte sich um und schaute noch mal raus. Eine junge Frau kam angerannt. (...) Da klingelte es, und die Türen gingen, zu. Ohne zu zögern, stieg sie entschlossen auf das Trittbrett, um die Abfahrt zu blockieren." Aber diese nette, junge Frau, kaum daß sie wieder Luft geholt hatte, griff „in ihre Lederjacke, holte etwas heraus, zeigte es ihrem Nachbarn und sagte: ,Die Fahrkarte, bitte!'".
Gerade deshalb ist dieses Buch dem Bundesinnenminister und seiner gesamten Beamtenschaft zu empfehlen. Eine dienstliche Anweisung zur Lektüre! kostet wenig und kann nur zum Wohl dieser Republik ausschlagen. Denn hier ist etwas über unsere, die bundesdeutsche Realität zu erfahren, über das Bewußtsem einer ganzen Generation. Hier kann man auch etwas über die Motive der RAF erfahren, über die Gründe, die zum Aberwitz des „bewaffneten Kampfes" geführt haben. Wackernagel hat spät, zu spät, den WahnSinn erkannt. Er hat sich konsequenterweise von der RAF losgesagt. „Der Staat kann verlangen", sagte er kürzlich in einem Interview, „daß man ihn nicht bewaffnet angreift, aber nicht, daß man ihn liebt." Jetzt sitzt er zwischen allen Stühlen. Er will sich seine Freiheit nicht erkaufen, will nicht als Belastungszeuge gegen seine ehemaligen Freunde und Genossen auftreten. Auch deshalb muß er weiter in der Justizvollzugsanstalt Bochum (Krümmede 3, 4630 Bochum l) sitzen, obwohl er die Hälfte seiner Haftstrafe bereits abgebüßt hat, obwohl er sich, wie es da heißt, „gut führt" und zudem „Einsicht" gezeigt hat. Auch nicht mit Gewalt, Hoffnung, Resignation und Trauer.
Diese Einsicht demonstrieren (absichtslos/nebenbei) auch seine Texte. Sie lassen noch etwas von der (so verrückten wie verzweifelten) Hoffnung spüren, die den Autor einmal bewogen hat, dieser Gesellschaft den Kampf anzusagen. Sie lassen etwas von der Resignation spüren, von der Erkenntnis, daß diese Welt, so wie sie ist, wohl nicht zu ändern ist, auch nicht mit Gewalt. Diese Texte, die frei sind von jeglicher Larmoyanz, lassen auch etwas von der Trauer darüber spüren, daß diese Welt so vernagelt ist. Und diese Texte zeigen darüber hinaus, daß Christof Wackernagel, der jetzt 33 Jahre alt ist und seit sieben Jahren im Gefängnis sitzt, einst von der Literatur herkam, vielleicht sogar von Breton, vom Surrealismus. Bekannt geworden ist Wackemagel als Filmschauspieler, früh schon, 1967, spielte er seine erste Hauptrolle in dem Film von Johannes Schaaf „Die Tätowierung". Später hat er selber Videofilme gedreht und irgendwann hat er sich der Roten Armee Fraktion angeschlossen. Ein Bruch oder gar die Konsequenz dieser Lebensgeschichte wer mag das entscheiden?
Ich fürchte, Wackernagel schreibt, weil und obwohl er weiß, daß wir die Kunst haben, um wie es Nietzsche gesagt hat an der Wahrheit nicht zugrunde zu gehen.

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