Kultur

Inhaltsverzeichnis:

1. Tatort: „Im Schmerz geboren“ Blutrausch als gepflegte Unterhaltung

2. Weihnachtsüberraschungen

 

 

Tatort: »im Schmerz geboren« – Blutrausch als gepflegte Unterhaltung zur Förderung der Rüstungsindustrie und des Salafistennachwuchses

Das öffentlich rechtliche Fernsehen in Deutschland arbeitet mit einem vom Gesetzgeber festgelegten Bildungsauftrag. Dieser beinhaltet nicht nur die Verbreitung von Wissen und Information, sondern auch die Vermittlung von für das Zusammenleben in der Gesellschaft notwendigen Moral- und Wertvorstellungen. Dazu gehört an vorderster Stelle Orientierung im Umgang mit Gewalt; insbesondere in einer Zeit, in der Gewaltexcesse international eskalieren und nicht einmal die Kirchen dem etwas entgegensetzen.
Die Frage,  wieviel und vor allem in welcher Form die Darstellung von Gewalt dazu beitragen kann, Abscheu und Ablehnung von Gewalt zu erzeugen,  ist umstritten.  Unterschiedliche individuelle Vordispositionen gesellschaftlicher, historischer und religiöser Natur verschärfen das Problem. Umso notwendiger ist es,  über Kriterien nach zu denken,  wie Darstellung von Gewalt in Dokumentation und Kunst beurteilt werden kann.
Wenn man davon ausgeht,  dass die Darstellung selbst von Grauen notwendig ist, um eine Haltung zu unterstützen, die Gewalt ablehnt, bleibt nur noch die Beurteilung der künstlerischen und ästhetischen Form, in der sie gezeigt wird. Dabei zählt auch nicht die subjektive Absicht des Künstlers oder Dokumentaristen. Es geht nicht um die Behauptung, sondern um das Ergebnis: das, was zu sehen ist und wie es gemacht wurde – nur daraus lässt sich ableiten, wie es wirkt.
Aus diesem Grunde ist es notwendig,  das Phänomen der zunehmenden Gewalt Darstellung im öffentlich rechtlichen Fernsehen zu untersuchen. Schon vor 15 Jahren wirkte ich selbst in einem “Tatort” mit, in dem eine Vergewaltigung derart naturalistisch gezeigt wurde, dass die Zuschauer gerade mal vom Anblick der gynäkologischen Details verschont wurden. Der Regisseur erklärte dies mit redaktionellen Vorgaben, es widerte ihn selbst an, vor allem aber die betroffenen Schauspieler.
Inzwischen ist ausgefeilteste Brutalität in jedem der unzähligen ARD und ZDF Krimis Achsel zuckend hingenommene, nicht weiter hinterfragte Realität. Wenn dann von den Verantwortlichen auf die “geniale Machart” hingewiesen wird, klingeln nicht sämtliche Alarmglocken,  sondern ist die Sache legitimiert. Das weist auf eine nicht hinterfragte Akzeptanz von Gewalt als Mittel der alltäglichen Auseinandersetzung hin, die parallel zur Eskalation der Gewalt als Mittel der weltweiten politischen Auseinandersetzung zu sehen ist.
Mit der Konkurrenz der privaten TV-Anbieter ist dies nicht zu rechtfertigen.  Die öffentlich rechtlichen Anstalten sind unabhängiger denn je, seit jeder Bürger sie bezahlen muss, selbst wenn er ihre Dienste gar nicht in Anspruch nimmt. Auch ihr gesetzlich vorgeschriebener Auftrag, Gesellschafts schädigenden Tendenzen entgegenzuwirken wird dadurch noch größer.
Das Gegenteil ist der Fall. In einem ganz normalen ZDF Krimi darf ein amtierender Polizist drei Menschen erschießen und zwar nicht in Ausübung seines Amtes,  sondern aus persönlichen Rachemotiven,  wofür sogar sein Chef Verständnis hat. Und er killt nicht nur, er zelebriert seine Morde, er quält seine Opfer vor ihrem Tod und das alles wird bis zum kleinsten Schweiss- und Blutstropfen in HD-Qualität ausgebreitet.
Aktueller Höhepunkt dieser Brutalisierung des öffentlich rechtlichen Fernsehens ist der “Tatort” des Hessichen Rundfunks: “im Schmerz geboren”. Es wird erschossen, bei lebendigem Leibe im Main versenkt und erwürgt. Minutenlang wird die Todesangst von Opfern gezeigt – aber nicht etwa abschreckend, sondern ästhetisch verzückt, von beruhigender Trauermusik unterlegt:
der Genuss trieft allen Beteiligten aus allen Poren, wobei die Verantwortlichen für diese moralische Katastrophe alle Register modernster filmisch-technischer Mittel ziehen, wofür sie dann auch noch einen Preis und Preisgeld in Höhe von 20 000 Euro bekommen.
Wer das sieht wird nicht davon  abgeschreckt, sondern auf höchstem Niveau daran gewöhnt.
Der Gipfel ist das Crescendo des Film, in dem sich eine von Drogen  aufgeputschte Verbrecherbande ein Gefecht mit der Polizei liefert. In Zeitlupe spritzt das Blut, sirren  die Kugeln und dazu wird der Zuschauer von sanft melancholischer Verdimusik eingelullt. Massakerästhetik.
Wer hier noch behauptet, das schaffe kritisches Bewusstsein gegenüber Gewalt oder entlarve gesellschaftliche Strukturen, ist selbst längst Opfer dieses systematischen, die ganze Gesellschaft erfassenden medialen Abstumpfungsprozesses.
Ästhetisierung von Gewalt ist Verharmlosung.
Irgendwie dämmert das auch den Machern dieser öffentlich rechtlichen Blutorgie, und so blenden sie immer wieder einen Shakespeare Zitator ein, der klarstellt: “Rache ist keine Lösung”.
Die mediale Eigenart des Films ist aber, dies mit den Mitteln  des Films, also auf unbewusster, unausgesprochener, indirekter Ebene zu vermitteln, das ist der Unterschied zur Analyse oder zum gesprochenen Wort. Wer seine Botschaft dazusagen muss, gesteht selbst ein, dass er sie mit anderen Mitteln, hier dem des Films, nicht zu vermitteln verstanden hat.
Im Falle von “im Schmerz geboren” ging es allerdings sowieso nicht darum, sondern ums Gegenteil:
Unterhaltung, Ablenkung, Verharmlosung, Lächerlichmachung; Gewöhnung an den Schrecken und Aufgeilung an Gewaltdarstellung. Der atavistische Affentanz zweier Brusttrommelnden Grosstadt-Gorillas mit Maschinengewehr bewaffneten Affenhorden hinter sich wird mittels Verweisen kreuz und quer durch die Kulturgeschichte hypostasiert zum Gebet: der Mensch ist und bleibt ein Tier, ein Affe mit Atombomde, wie schon Konrad Lorenz wusste. Die textbausteinartig abgespulte Behauptung, es ginge um Kritik daran ist nur eine pseudoemanzipatorische Rechtfertigung für diese excessive Ausbreitung der Gewaltdarstellung.
Die Botschaft ist eine gegenteilige:
Gewalt hat keine gesellschaftlichen, politischen oder gar ökonomischen Ursachen, sondern geht von Irren aus – in diesem Fall einem psychisch kranken Drogenhändler.
Das ist so, daran kann man nichts ändern, das war schon immer so – was ein  bunter Zitatemix aus der Weltliteratur, klassischer Musik und Westernglorie beweist.
Und vor allem, – und das ist das Zentrum der Botschaft – :
dagegen gibt es nur ein Mittel, nämlich noch mehr Gewalt.
Das entspricht exact den Anforderungen des globalen Zeitgeists. Dieser Film spiegelt nicht gesellschaftliche Zustände wider, sondern ist selbst Spiegel und Motor gesellschaftlicher Zustände:
Wenn selbst Bischöfe Waffenlieferungen fordern, anstatt mit ihren Kollegen von der anderen Variante der Anbetung desselben Gottes auch nur versuchen  zu reden (wieso bietet sich der Papst nicht als Austauschgeisel an wie es H.D. Genscher 1972 beim Attentat der Palästinenser auf die israelischen Olympiasportler getan hat?), dann ist klar, was die Uhr geschlagen hat, dann müssen die Menschen darauf eingeschworen werden, dass es für diese Irren wie IS oder wenn nötig auch Putin nur eine Antwort gibt: “ab sechs Uhr wird zurückgeschossen”.
Deshalb ist dieser Film zum goldrichtigen Zeitpunkt gekommmen. Bequem bei einem Glas Wein in den Sessel zurückgelehnt bleibt einem, auch noch legitimiert durch die halbe Kulturgeschichte, nichts anderes übrig als – obwohl man es ja gar nicht will! – zu sagen: “ja, schmeisst die Rüstungsschmieden an und gebt jedem Zunder, der nicht mitspielt”. Man darf nicht nur nicht töten, sondern, wie jetzt von höchstbischöfflicher Seite verkündet wurde, auch nicht “töten lassen”, sozusagen das elfte Gebot: lasst andere die töten, die töten, bevor diese uns töten und rüstet sie dafür mit deutscher Qualitätsarbeit aus.
Der Hessische Rundfunk als Absatzförderer der deutschen Waffenindustrie. Das deutsche Fernsehen als Richter und Henker: wer aus der Reihe tanzt, wird im Main versenkt – so geht es auch bei der Mafia zu. Die Flüchtlinge werden ja auch im Mittelmeer versenkt, jedem das seine.
Dieser Film verwurstet wirklich alles, was es je an emanzipatorischen Ideen und Versuchen gegeben hat aus dem Elend patriarchalischer Perspektivlosigkeit, wie sie heute von der Ukraine über Irak bis Mali neue Gipfel erstürmt, herauszufinden und zu einer friedfertigen Weltgesellschaft zu kommen.
Der Versuch einer “menage a trois”, lernen wir am bemüht zitierten Beispiel des Films “Jules und Jim”, ist nicht etwa ein Versuch zu repressionsfreien Beziehungen zwischen Männern uns Frauen zu kommen, sondern führt zu Mord und Totschlag zwischen den Kerlen, das war schon immer so und wir immer so bleiben. Frauen sind Sexualobjekte und Gebärmaschinen, um die sich die Männer zu kloppen haben, damit beim Nachwuchs die stärksten Gene sich durchsetzen.
Nichts Neues also, nur neu aufgelegt.
Komik darf auch dabei sein: während der Polizist und der Drogenbaron teuren Champagner trinken, müssen Brigaden von SEK Soldaten schwitzen und werden schliesslich aus Mitleid nach Hause geschickt. Das Publikum beim Münchner Filmfest lacht brav. Am Schluss des Films werden alle Toten eben schnell nochmal augenzwinkernd lebendig gezeigt: ist ja nur Film, das Publikum lacht brav.
“Im Schmerz geboren” – dieser Courths-Mahler betitelte, mit Verdi unterlegte Shakespeare/Tarantino Verschnitt ist die bislang raffinierteste Version Abstumpfung gegenüber Gewalt mit Kritik an derselben zu verkaufen. Das kritiklose Gejubel über diese künstlerische Delikattesse führt sich selbst vor:
je besser etwas gemacht ist, desto besser wirkt es.
“Dieser Film ist trotz 47 Morden nicht brutal” beteuert eine Barbara Möller in einer der vier grössten Tageszeitungen der Republik.
Quod erat demonstrandum.
Morden ist immer brutal.
Aber angesichts des weltweiten Mordens wird es an der Zeit dieses altmodische Denken zu den Akten zu legen.

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Noch vor wenigen Jahrzehnten konnte ein einziges Foto, das den verzweifelten Blick einer Frau zeigte, an deren Schläfe eine Pistolenmündung gedrückt wird, die ganze Welt erschüttern und zum Ende des Vietnamkriegs beitragen genauso wie die Empörung erzeugenden Dokumentationen von Bombardierungen Nordvietnams. Die erste Folge davon waren öffentlich rechtliche Giftschränke, in denen derartige Aufnahme verbunkert wurden. Dieses Verfahren erzeugte nur sein Gegenteil: noch mehr Proteste.
So entwickelte sich bald ein gegenteiliges Verfahren: Wir alle werden derart mit Bildern von Gewalt und Grausamkeit vollgeballert, bis nur noch jeder Mensch mit Abstumpfung und Verdrängung reagieren kann, keiner mehr betroffen ist.
Forscher in  aller Welt untersuchen seit einigen Monaten die Attraktivität der von dem IS auf facebook, twitter etc verbreiteten Propaganda für junge Menschen in Europa. Die ästhetisch perfekten Bilder von Kolonnen von Jeeps in der Wüste, auf denen vermummte Gestalten mit Maschinenpistolen posieren, genauso wie detalliert gepostete Fotos erschossener, erwürgter, geköpfter Menschen. Sie haben herausgefunden, dass die IS Propaganda sich exact an das Vorbild amerikanischer Kriegsfilme hält und damit wirbt, dieses nur fiktionale endlich real werden zu lassen.
Wenn nun  die deutsche Gesellschaft sich darüber wundert, dass viele junge Menschen nach Syrien oder in den Irak abwandern, um bei dem IS mitzukämpfen, sollte sie als erstes vor der eigenen Türe kehren:
wo sie die gnadenlose Brutalisierung des deutschen  Fernsehens in den letzten beiden Jahrzehnten findet.
Man sollte diesen Offenbarungseid des deutschen Fernsehens als nicht mehr zu überbietendes Alarmsignal begreifen, endlich die Killer- und Massakerorgie des öffentlich rechtlichen Fernsehens einzustellen. Wenn Anstaltsleitungen, Redakteure, Regisseure und Drehbuchautoren vor dem Verwertungsdruck der Rüstungsindustrie kapitulieren, dann sollte wenigstens der Bundesrechnungshof diesen Missbrauch öffentlicher Gelder beenden.
Die verantwortliche Redakteurin mit Leni Riefenstahl gleichzusetzen täte ihr zuviel der Ehre an, sie ist selbst nur Rädchen im Getriebe und muss ihre Rente sichern, indem sie in vorauseilendem Gehorsam an sie gestellte vermeintliche oder tatsächliche Erwartungen antizipiert. Aber sie erfüllt dieselbe Funktion: das Publikum, also die Gesellschaft mit Hilfe der Medien zu konditionieren, unerträgliche, immer grausamere Gewalttaten achselzuckend oder gar amüsiert als unabänderliche Tatsache hinzunehmen.
Heisst der Bildungsauftrag etwa: Abstumpfung der Gesellschaft gegenüber Gewalt und Konditionierung junger Menschen zur Beteiligung an salafistischen Mordorgien?
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1967 richtete ich in  dem Film “Tätowierung” eine Plastikpistole auf meinen Ziehvater, ein Schuss fiel, er sank zu Boden. 1977 richtete ich eine echte Waffe auf einen Polizisten und es kam zu einem glücklicherweise nicht tödlichen Schusswechsel:
wenn ich beim Anblick dieses Filmes Abscheu und Wut empfinde, weiss ich, wovon ich rede, denn ich kenne beide Dimensionen aus eigener Erfahrung: Gewalt im Film und Gewalt in der Realität.
Darstellung von Gewalt hat in jedem Fall ungeheure tiefenpsychologische Wirkungen, deren Ausmasse niemand genau bestimmen kann. Wer hier auch noch diese Abschlachterei mit dem Bedürfnis der Menschen nach Unterhaltung zu rechtfertigen versucht, handelt zumindest grob fahrlässig: Unterhaltung und Abschreckung schliessen sich gegenseitig aus.
Kunst besteht darin, nicht zu zeigen, was dargestellt werden soll, erst recht, wenn es um Gewalt geht. Nur so kann sie Schrecken und Abschreckung erzeugen. 1:1 dargestellte Gewalt verhindert Abschreckung. Gewalt als Unterhaltung schaltet kritische Reflexion aus. Vermittelt Gewalt als unabänderlich.
Wenn man die Menschen mit der wirklichen Brutalität konfrontierte – z.B. Fotos der Gräuel in Darfur – und zwar pur, 1:1, dann würden die Leute verrückt werden; die nachgemachte Brutalität hilft, die Brutalität zu ertragen, verharmlost sie: und ist damit Vorreiter und Legitimator und Ermöglicher der wirklichen Brutalität, brutalen Realität.
Als ich gestern mit meinem kleinen Sohn auf dem Spielplatz mit anderen Eltern sprach, konnte keiner dieser zur “Tatort”Zielgruppe gehörenden Menschen diesem von allen Medien zum nationalen Ereignis hypostasierten Film etwas abgewinnen. Der einhellige Kommentar war: “krank”. Niemand aus meinem gesamten Bekanntenkreis hat sich diesen Film als Ganzes angesehen.
Das lässt hoffen.
“Im Schmerz geboren” ist eine Chance.
Eine einzigartige Gelegenheit, das Steuer herumzureissen und zum wirklichen Bildungsauftrag des öffentlich rechtlichen Fernsehens zurückzukehren.

Oktober 2014

Weihnachtsüberraschungen

Ottobrunn, 2013:
Blitzlichtgewitter: die Band lief ein, vorne dran die Gitarristin, und auch nachdem sie zu spielen begonnen hatte, blieben die Telefone mit blinkenden record-on Lämpchen in die Höhe gereckt; wie ein Kranz über den Köpfen der im Halbkreis versammelten Eltern, die beim obligatorischen Kita-Weihnachtsfest die Darbietung ihrer Sprösslinge bewunderten und für alle Ewigkeit festhielten. Wie funktionierte eigentlich das Leben als es noch keine Smartphones gab? Ich hob meinen gerade ein Jahr alt gewordenen Sohn Peter auf die Schultern, damit er das seltsame Spektakel besser bewundern konnte. Vor einem halben Jahr hatten wir Mali, wo er geboren war, fluchtartig verlassen, weil Al Qaida Truppen die Hauptstadt Bamako bedrohten. Nun Ottobrunn, das war Airbus und EADS – der Krippenneubau hatte 3,4 Millionen gekostet, ein Ökotraum in Holz und Glas, Fussbodenheizung und Wiesen mit Bäumen drumrum. Peter amüsierte sich über die bunten Kostüme – ich fühlte mich wie vom roten Wüstensand Bamakos direkt in eine Raumstation katapultiert.

In Mali, in dem nur 10% Christen leben, feierten auch die Muslime Weihnachten. An jeder Straßenkreuzung boten fliegende Händler Plastikweihnachtsmänner made in China an, Plastikadventskränze und Plastikgebinde. Am 25.12. ist schulfrei. Leben und leben lassen. Zusammen feiern ist immer gut. Gott ist Gott.

»Nur zwei Euro im Monat« solle man spenden, las ich auf dem Plakat gegenüber dem Supermarkt unter dem Foto eines kleinen Mädchens, das in die Kamera lächelte. Mir kamen die »fund rising« Jäger in den Sinn, die sich mit ihren high-tech Kameras darin überboten, die rührendsten Fotos glutäugig schmachtender Kinderaugen zu schiessen. Wieviel zwei Euro braucht es, um nur einen ihrer Jeeps zu bezahlen? Warum lebten sie in 5-Sterne Hotels? Warum fotografierten sie nicht die Paläste der malischen high society in deren riesigen Luxusvierteln?

Peters fünf Jahre älterer (halb)Bruder Jacobu sah die Weihnachtsmänner auf der Strasse nur von weitem. Unbezahlbar für den Grossteil der Bevölkerung.  Ich hatte ihm immer wieder Autos, Bagger und Puppen aus einer gespendeten Kiste mitgebracht, in der jedes zweite Spielzeug kaputt war. Für die Afrikaner reichts ja. Er bedankte sich nicht, ich war beleidigt – und musste ihm doch recht geben. Wieso sollte er katzbuckeln, wenn wir unseren Überfluss nur ihm geben, weil wir ihn wegschmeissen wollen?

Und dann Peters erstes Weihnachten unter heimisch gewordenen Althippies. Ausgemacht war, dass es keine Geschenke gibt. Eine Lawine brach über ihn herein: vom ganzen Zelt über einen halben Zoo bis zu Büchern, die piepsen konnten, alles, was das Herz begehrt, aus glänzendem Plastik, lebensmittelecht und kindersicher, nur vom Feinsten. Er torkelte zwischen all den Beinen und Geschenken herum und wir räumten die Hälfte weg für Ostern. Und was suchte er sich aus? Eine Kuh und einen Vogel Strauss. Der Rest interessierte nicht. Mehr braucht es nicht.

Da fiel mir Jacobu ein. Sein Bruder. Weihnachten, das Fest des »alle Menschen sind Brüder«. Der eine Bruder hat alles, der andere nichts. Und selbst wenn er es gar nicht haben wollte: Jacobu hatte nicht die Wahl, darüber nachzudenken, ob es ihn interessierte, er hatte überhaupt nichts. Und selbst wenn Peter ihm die Hälfte seines Spielzeugs abgäbe, änderte das nichts an seiner Situation. Er würde isoliert. Alle anderen wollten davon abhaben und erwarteten von ihm, dass er mehr auftreibe. Wie es schon seiner Mutter gegangen war, weil sie sich mit einem Weissen eingelasen hatte.

›Diese beiden Brüder repräsentieren die unterschiedlichen Besitzverhältnisse aller Menschen auf der Welt‹, dachte ich, ›und Weihnachten kommts raus‹.

›Da hab ich mir das Problem ins Haus geholt‹, stellte ich fest, ›an dem ich mein ganzes Leben herumdoktere, abstrakt, politisch, analytisch – jetzt in der eigenen Familie ‹. Ohne Antwort.

Bamako 2003:
Weihnachten mit der WG einer zehnköpfigen Kameruner Familie, die ein florierendes IT Geschäft betrieb. Das Familienoberhaupt, ein Christ, war in Kamerun – ich durfte das Fest ausrichten.
Da liess ich mich nicht lumpen: lecker gegrilltes Fleisch, rafffiniert marinierte Fische, Kochbananen, selbstgemachte Pommes Frites, ausgeklügelt komponierte Salate, »boissons« (Fanta/Cola/Sprite) in rauen Mengen, selbst Bier und Wein, Martini und Cinzano – wenn genügend Geld da ist, geht alles. Es gibt in Bamako Supermärkte, in denen die Summe auf dem Kassenzettel nicht nur in der einheimischen Währung steht, sondern auch umgerechnet in Euro. Nicht »wir Europäer« sind reich und »die Afrikaner« sind arm, sondern hier wie dort gibt es Reiche und Arme.

Und mit vor Grosszügigkeit überquellender Brust beschloss ich in meiner Postion als »Patron« das Fest des »alle Menschen sind gleich«, einmal wörtlich zu nehmen und zu diesem Anlass die »bonne« (Hausangestellte) Chadija, die sonst immer abseits vom Tisch im Hof speiste, mit an die festlich geladene Tafel zu bitten. ›Ist doch unwürdig, diese zwei Klassen Gesellschaft‹, empörte ich mich in Gedanken, ›denen zeige ich mal, was wahre Nächstenliebe ist! Gerade wenn man hier daran erinnert wird, wie reich man ist, sollte man doch wenigstens an Weihnachten mal gerecht teilen‹. Wahrscheinlich würde damit ihr sehnlichster heimlicher Wunsch erfüllt!

Aber irgendetwas stimmte nicht. Sie wolle nicht mit uns am Tisch essen, erklärte Marie-Therese, die Tochter des Hausherrn. Hier sei das eben nicht üblich, klärte mich Janvier auf, der Neffe des Hausherrn. »Aber es ist doch Weihnachten«, beharrte ich, obwohl mir etwas unwohl wurde. Ich erntete milde Mitleidsblicke.

»Wo ist sie?« »Sie steht im Gang«.

Ich öffnete die Tür – und erstarrte geschockt: heftig schluchzend stand Chadija in einer dunklen Ecke und wischte sich Rotz und Tränen aus dem Gesicht. Beschämt stand ich vor ihr und wusste nicht, was ich sagen sollte. Marie-Therese brachte einen Teller mit knusprigem Hühnchenschenkel, frittierten Kochbananen, Salat und zwei boissons. Dankbaren Blickes riss Chadija ihr den Teller aus der Hand und verschwand im Dunkel des Hofs.

Das Fest der Liebe konnte beginnen und ich war um eine Erfahrung reicher.
Selbst unsere unantastbaren höchsten Werte sind nicht das letzte Wort. Humanismus kann in Psychoterror umschlagen.

Ottobrunn 2014:
Weihnachtszeit- Spendenzeit: Wieder konnte ich nicht mit der S-Bahn fahren, ohne an den Stationen auf Plakate zu stossen, auf denen sich wunderhübsche, glutäugige Kinder klares Wasser aus einem Wasserhahn über die Hand in den Mund rinnen liessen: »spenden Sie einmal im Monat – und helfen Sie jeden Tag!« Ein Griff in die Portokasse der reichen Länder würde genügen, den Rest der Welt mit Trinkwasser zu versorgen.

Mir kam die Leiterin der malischen »lokalen Partnerorganisation« eines deutschen Hilfsvereins in den Sinn, eine Goldminenbesitzerin, die Paris und New York kannte. Der erste Container mit Hilfsgütern war angekommen. Ich betrat ihr Wohnzimmer und traf eine einsame Frau zwischen für uns wertlos gewordenen Schätzen. Sorgfältig hatte sie alles auseinandersortiert: auf Tische, Stühle und Sofas verteilt lagen sauber gestapelte Häufchen von Hosen, Hemden, Blusen, Socken, BHs, Jacken und Mänteln, die sie traurig traumverlorenen Blickes betastete und glattstrich  – Beckett life. Nach dem zweiten Container hatte sie sich ein neues Auto gekauft.

Obwohl inzwischen schon anderthalb Jahre wieder in Deutschland und Mitglied des Elternbeirats der Krippe, kam ich mir immer noch wie auf einem fremden Stern vor, wenn ich mein Email Postfach öffnete und in acht von zwölf Emails eine erbitterte Diskussion darüber tobte, welche Rezepte bei der Backwoche in der Krippe benützt werden sollten. Na wenns sonst keine Probleme gibt, ist ja alles gut. Ob Weihnachtssterne giftig seien oder nicht, war der zweite Zankapfel. Aber wir haben doch die letzten Jahrhunderte auch überlebt!? Kann es sein, dass wir Erwachsenen kindischer als die Kinder sind? In Mali lutschten die Kinder gern alte auf die Strasse geworfene Batterien, das schmeckte so schön süsssauer.

Aber ich mischte mich nicht ein, sondern heftete für die Weihnachtsfeier mein Schildchen »Elternbeirat« an die Brust, der Streit um die Rezepte war vergessen und die Plätzchen hätten schmackhafter nicht gelingen können. Wir tranken alkoholfreien Punsch, mehrere Gigabites Smartphonespeichers wurden verfilmt und wir hatten einen richtig netten Nachmittag.

Als ich danach Peter in seinem Buggy durch Ottobrunns Strassen nach Hause schob, fiel mir der alte Berliner Schlager ein: »Die Männer sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch – aber lieb, aber lieb, sind se doch«.
Da wurde es mir trotz der Kälte ganz warm ums Herz und ich sang leise in Peters Ohren: »Die Ottobrunner sind alle Verbrecher, ihr Herz ist ein finsteres Loch – aber lieb, aber lieb, sind se doch!«

Bamako 2004:
Nach der letztjährigen Weihnachtserfahrung schlauer geworden, beschloss ich, in meinem zweiten Mali Jahr Weihnachten einfach an mir vorübergehen zu lassen.

Es betraf eh nur die Reichen, die hier genausowenig den wahren Weihnachtsgedanken umsetzten wie bei uns zulande. Ausserdem hatte ich inzwischen viel mehr Kontakt zu der Mehrheit der Bevölkerung, die sich Weihnachtsfeiern gar nicht leisten konnte. Aber Weihnachten ist eben Weihnachten und da wird ein klein wenig mehr darauf geachtet, ob hehre Worte mit den Taten übereinstimmen.

Ich wollte eine amerikanischen Freundin besuchen von, der ich wusste, dass sie auch nichts mit Weihnachten am Hut hatte. Sie war nicht da, aber ihr Guardian, der obligatorische Wächter, der vor jedem Haus der gehobenen Klasse sass und in der Garage oder einer eigenen kleinen Hütte wohnte, sprach mich an: »was ist denn nun mit Eurem tollen Weihnachten, ich denke, da bekommt man Geschenke?« »Tja«, sagte ich ratlos, denn ich sah nicht ein, wieso ich ausgerechnet ihm, den ich kaum kannte, etwas schenken sollte. Er zeigte auf seinen Bauch und zwinkerte mir zu.

Also ging ich zwei Strassen weiter nach Hause, füllte ein dreitöpfiges Essenstransportgeschirr mit Henkel, wie man es aus der ganzen Welt kennt, mit den weihnachtlichen Köstlichkeiten meiner Gastgeber und trug es zu ihm.

Hocherfreut sondierte er den Inhalt, forderte mich ultimativ auf, Platz zu nehmen und rief den benachbarten Guardian: »Komm, wir feiern Weihnachten!«

Und so sassen wir am Rande der staubigen Strasse und quatschten über das Leben, die Frauen und überhaupt, assen und lachten und tranken boissons und winkten den Vorübergehenden gut gelaunt zu – und fühlten uns rundum wohl.

Christof Wackernagel
Ottobrunn 12.2014

Ein Gedanke zu „Der Film zum Krieg“

  1. Udo
    Kunst besteht darin, nicht zu zeigen, was dargestellt werden soll, erst recht, wenn es um Gewalt geht. Nur so kann sie Schrecken und Abschreckung erzeugen. 1:1 dargestellte Gewalt verhindert Abschreckung. Gewalt als Unterhaltung schaltet kritische Reflexion aus. Vermittelt Gewalt als unabänderlich.Betrifft auch Jugendliche: noch nicht fertig aber soooo coul.Lieber Christof, wie recht du hast!!
    Udo

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