Wahrheit an Weihnachten
Weihnachten mit Madou, Assa und ihrer Tochter Ami, die Assa bekam, als sie 16 war, der Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, bevor das Kind auf die Welt kam. Assa Niaré ist Analphabetin und spricht kaum Französisch, ihre vierjährige Tochter Aminata geht, seit Assa Arbeit hat, in einen Kindergarten, in dem ihr erste Schritte zum Lesen und Schreiben beigebracht werden. Im muslimischen Mali ist Weihnachten ein offizieller Feiertag, Assa erschien in schönster Robe, geschminkt bis unter die Schädeldecke, auch Ami war herausgeputzt
– ausgerechnet mit einem t-shirt, auf dem »I am Daddys Darling«, was Assa nicht lesen konnte, und was übersetzt, ihr wenig Freude machte -, der Tisch zur Feier des Tages europäisch gedeckt, es gab Fleisch, Bohnen und Kartoffelsalat, mit dem ein wenig von der europäischen Kultur vermittelt werden sollte.Ami stocherte darin herum, aber, wie ihre Mutter sagte, nicht, weil sie Kartoffelsalat nicht kenne, sondern weil sie nie viel esse. Dafür habe sie aber einen ganz schön dicken Bauch, sagte Madou Coulibaly lachend – und in der Tat: eigentlich ist sie ja eher mager, wieso dieser Bauch? Eine düstere Ahnung stieg in dem seit Jahrzehnten von den Bildern schwarzer Kinder mit Hungerbäuchen zu so heftigem wie erfolglosen politischen Engagement angetriebenen und nun in Afrika gestrandeten Weissen auf: sitzt hier etwa ein solches Kind an Deinem Tisch? Ausgerechnet an Weihnachten? Hast Du hier plötzlich zum Greifen nah, konkret, was bisher immer das abstrakte Movens einer abstrakten Verzweiflung war? Verlegen lächelnd zog Aminata ihr T-shirt hoch und es erschien ein praller, straff gespannter Bauch, so eindeutig kein Wohlstandsbäuchlein, dass nur noch der Freund und Nachbar Dr. Seydou Sougoulé weiterhelfen konnte.
Und eine weitere Frage drängte sich auf: wieso brauche drei Jahre, um an die Realität heranzukommen, wegen der ich hierhergekommen bin? Ami ist eines von Millionen Kindern in Afrika, von denen tausende täglich daran sterben, eines von tausenden in Bamako eines von hunderten im Stadtteil Hippodrome: und ich habe nichts davon gemerkt? !
Mit wem hatte ich bisher vor allem zu tun? Vor allem mit Familien, Clans, die eifersüchtig darauf achteten, dass ich keinen zu intensiven Kontakt mit anderen bekam. Alle anderen seien schlecht, die Schwarzen als solche sowieso ganz schlimm, Betrüger, Lügner, Verräter – und die dies gesagt hatten, erwiesen sich oft bald darauf genau als solche. Warum hatten sie immer betont, ich brauche die Landessprache Bamananko nicht zu lernen, sie vermittelten mir schon alles notwendige? Im Gegensatz zu Madou Coulibaly, der mir in aller Freundschaft sagte, dass wenn ich es nicht bald lernte, ich eben kein Interesse habe… Was für Leute waren das? Es waren Menschen, die französisch konnten, eventuell sogar studiert hatten, gebildet oder halbgebildet waren, intellektuell oder pseudointellektuell, und die genau wussten, welche Knöpfe sie bei den Weissen zu drücken hatten, um Betroffenheit und Spendenbereitschaft auszulösen – und das Ergebnis davon zu kassieren.
Ich wurde abgeschottet und merkte es nicht. Ich wunderte mich, auf Lebensumstände zu treffen, die so verzweiflungswürdig nun auch nicht waren, dachte: »alles halb so wild«. Ich wunderte mich über die hektischen Warnungen, mit gewissen Leuten keinen Kontakt aufzunehmen, Analphabetinnen mit Prostituierten gleichzusetzen und Diebinnen, aber ich ging dem, zunächst, nicht gründlich genug nach, hielt es für gewöhnliche Eifersucht, merkte nicht, dass es Strategie ist, deren Wurzeln bis in die Kolonisierung zurückreichen und die Resultat einer postkolonialen Struktur ist, in der das Verhältnis zwischen schwarz und weiss komplett zerstört ist, weil es auf ein einseitiges Geben und Nehmen reduziert ist bzw. die sogenannten Hilfsorganisationen die verbrecherische globale Ausbeutung der rohstoffreichen Länder mildern und kaschieren, vor allem, in dem sie auf dem Weg über einheimische Mittelsleute den Deckel auf dem Kochtopf halten.
Rechtsanwalt Alassanne Diop zum Beispiel, mit dem ich glaubte ein Bäckereiprojekt gemacht zu haben, mit dem nahrhafteres Brot eingeführt werden sollte, damit die Kinder länger satt bleiben, sagte später, nachdem seine Schwester Fafa, die insgesamt 6 Monate in der Brotbackkunst ausgebildet worden war, nach Frankreich abgehauen war, 3 tausend Euro Spendegelder mitgenommen hatte und dort einen Mann sucht, während ihr Bruder Kaou, der ausgebildet worden war, die Maschinen zu betreuen, neben den Backmaschinen sitzt und Däumchen dreht, weil er kein Brot damit backen kann – Diop sagte neulich mit treuem Augenaufschlag: »Wie? Es ging doch immer nur darum, eine Beschäftigung für meinen Bruder zu finden!«
Warum verläuft die ganze »Entwicklungszusammenarbeit« genannte Entwicklungshilfe fast völlig im Sande? Weil sie von den einheimischen Kollaborateuren abgegriffen wird, die sie in ihre eigene Tasche stecken. Wobei sie auch nur nachmachen, was ihnen vorgemacht wird: Wer sieht, wie die Mitglieder der sogenannten Hilfsorganisationen sonnenbrillenbewehrt in funkelnagelneuen Vierradantrieb Jeeps aus ihren von Stacheldrahtzäunen eingeschlossenen Villen mit Swimming Pool gleiten, während die schwarzen Wächter das Garagentor schliessen, und wer weiss, was für Gehälter sie einstreichen, dass sie keine Miete und keine Steuern zahlen müssen, dafür Auslandsentschädigung bekommen und Rückkehrsicherung nach ihren zwei bis vier Jahren Hilfsarbeit, wer weiss, dass 60 Prozent der Entwicklungshilfemillionen in diese Struktur gepumpt werden, deren Selbstverwaltung, Selbstdarstellung und –rechtfertigung, der kann verstehen, dass der schwarze Dr. X, in Frankreich oder Deutschland ausgebildet, hier kaum eine andere Chance auf Arbeit habend, sich sagt: »wieso soll ich das eigentlich nicht genauso machen?« Oder mit anderen Worten: wenn die Weissen so blöd sind, das mitzumachen, geht mich das doch nichts an. Oder mit den Worten eines pensionierten Ölmultichefs und Aktionärs der bank of Africa, Gatten zweier Ehefrauen und Vater von vier Kindern, die in den USA und Frankreich studieren: »In Europa gibt es eben Philanthropen – so etwas gibt es in Afrika nicht«. Was er nicht einmal zynisch meint, oder spöttisch, eher nachdenklich; schliesslich zieht er selbst soundsoviele Verwandte der Familien seiner beiden Frauen in seinem Haushalt mit durch, zahlt deren Krankenhausaufenthalte, teilweise deren Ausbildung etc – wie es das hiesige Sozialsystem, das kein staatliches ist, eben verlangt.
Elend geht einen hier nur an, wenn es in der eigenen Familie vorkommt (wobei der Begriff Familie sehr weit gefasst ist) – eine Hungersnot im Dogonland haben gefälligst die Franzosen, Schweden oder Canadier mit Luftbrücken zu lindern, nicht die Malier.
Das neueste BMW-Modell kenne ich freilich von einem Nachbarn ein paar Häuser weiter, ich habe selten so viele neue Jaguar X Modelle gesehen, und die Mercedes Vertretung in Bamako reicht dicke an die in Stuttgart heran: es gibt hier für unsere Begriffe unvorstellbaren Reichtum, aber es gibt nur an den Fingern einer Hand abzuzählende Ausnahmen – meist ernsthafte Muslime, die ihre Religion wörtlich nehmen -, die diesen Reichtum auch weitergeben.